SPIEGEL: Frau Nahles, was sagen Ihnen die Zahlen 34, 23, 20,5?

Nahles: Das klingt nach Wahlergebnissen der SPD.

SPIEGEL: Stimmt. Es sind die SPD-Stimmanteile bei der Bundestagswahl 2005 sowie nach den beiden Großen Koalitionen 2009 und 2017. Da nun erneut eine schwarz-rote Zusammenarbeit in Rede steht, fragen wir uns: Wie weit soll es mit der Sozialdemokratie noch bergab gehen?

Nahles: Ich will, dass es wieder aufwärts geht. Dafür müssen wir uns anstrengen. Die richtige Aufarbeitung unserer Niederlage steht uns noch bevor.

SPIEGEL: Und das soll nun ausgerechnet in einer Großen Koalition geschehen, mit der Ihre Partei wiederholt schlechte Erfahrungen gemacht hat. Warum wollen Sie, wie es der Vorsitzende Ihrer Jugendorganisation ausgedrückt hat, immer wieder gegen dieselbe Wand laufen?

Nahles: Ich bestreite, dass die Schwäche der deutschen und europäischen Sozialdemokratie mit der Form der Regierung zu tun hat. Der SPD ist es in den vergangenen Jahren nicht gut gelungen, eine glaubwürdige Konzeption für eine moderne und gerechte Gesellschaft zu entwerfen und vermitteln. Wir haben viel von Zusammenhalt und Solidarität gesprochen, aber die SPD hat in den letzten Jahren vernachlässigt, ihre Rolle als Bindeglied zwischen Verlierern und Gewinnern der Veränderungen unserer Zeit wahrzunehmen. Dafür trägt nicht die Union die Schuld.

SPIEGEL: Das reicht als Erklärung nicht aus. Die SPD hat in der Großen Koalition eine Menge durchgesetzt; trotzdem hat am Ende die Kanzlerin die Erfolge eingeheimst. Warum soll das jetzt anders werden?

Nahles: Das muss anders werden! Wir können das nicht nur aus der rein deutschen Sicht betrachten. Die beschriebene Herausforderung haben alle sozialdemokratischen Parteien in den westlichen Demokratien. Da, wo sie es schaffen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, können sie sich behaupten. Da, wo Ihnen das nicht zugetraut wird, verlieren sie. Das erklärt zum Beispiel den Absturz der französischen Sozialisten, die unter François Hollande ganz allein regiert haben.

SPIEGEL: Vielleicht war das einfach eine schlechte Regierung.

Nahles: Mag sein. Aber dann schauen Sie nach Tschechien: Da stellten die Sozialdemokraten den Ministerpräsidenten, jetzt liegen sie bei neun Prozent. Unsere holländischen Parteifreunde sind bei den jüngsten Wahlen ebenfalls eingebrochen. Wenn wir als SPD angesichts dieser Entwicklungen den Eindruck erwecken, an allem sei die Kanzlerin Schuld, reden wir uns heraus. Nach dieser Logik bräuchten wir ja nur abwarten bis Merkel weg ist – und schon ginge es uns automatisch besser. Das wäre naiv.

SPIEGEL: Im Wahlkampf hat die SPD der Kanzlerin noch heftige Vorwürfe gemacht, weil sie nur selten Position beziehe und den politischen Wettstreit verweigere. Von einem „Anschlag auf die Demokratie“ sprach Ihr Parteichef. Das ist jetzt also alles vergessen?

Nahles: Nein. Aber wir müssen auch anerkennen, dass wir unsere Probleme selbst zu verantworten haben. Und auch die Lösung haben wir übrigens selbst in der Hand. Wir wollen eine überzeugende Antwort beispielsweise auf den digitalen Kapitalismus finden. Die Menschen erwarten konkrete Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit. Und wir wollen ihnen wieder das Gefühl geben, dass sie in einer unsicher werdenden Welt Anschluss halten können.

SPIEGEL: Nach der Wahlniederlage schien der Gang in die Opposition für viele in der SPD wie eine Befreiung. Lieber die reine Lehre vertreten als hässliche Kompromisse eingehen, das war die Losung der Partei.

Nahles: Nein, die Losung war: Politik braucht Alternativen. Eine andere Regierungsmehrheit wäre möglich gewesen, aber die Jamaika-Parteien haben verantwortungslos gehandelt und daher haben wir eine neue Lage. Ich halte übrigens nichts von reiner Lehre. Manche folgen dieser Sehnsucht nach einer bequemen Nische, in der die SPD machen kann, was sie will. Diese Sehnsucht habe ich auch mal geteilt, bis ich gemerkt habe, dass es so nicht funktioniert. Wir sollten es uns nicht zu einfach machen. Ich habe auf unserem letzten Parteitag gesessen und gedacht: Die SPD muss schwer aufpassen, dass sie ihre eigene Identität noch durchbuchstabieren kann.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Nahles: Die SPD versteht sich als linke Volkspartei. Beide Wörter sind wichtig. Klare fortschrittliche Ziele und Werte. Aber auch die Bereitschaft, die unterschiedlichen Interessen und Meinungen links der Mitte zu verbinden. Zu den Genen unserer Partei gehört neben der Solidarität auch, dass wir uns an Arbeit und Leistung orientieren und nicht nur an staatlicher Umverteilung wie die Linkspartei. Wir waren immer dann stark, wenn wir eine Klammer gefunden haben zwischen Innovation und Gerechtigkeit, zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Modernität und Tradition. Es hilft nicht, nur Maximalpositionen zu besetzen.

SPIEGEL: Wollen Sie nun in eine Große Koalition oder nicht? Die SPD kann doch nicht ewig ergebnisoffen sprechen. Wann entscheiden Sie?

Nahles: Mit dem Parteitag am 21. Januar wird die Zeit der Ergebnisoffenheit vorbei sein. Da werden wir eine Linie festlegen. Wenn wir die Chance haben, unsere Vorstellungen von einer modernen und gerechten Gesellschaft in praktische Politik zu übertragen, dürfen wir uns davor nicht drücken. Aber ob wir mit der Union so weit kommen und in welcher Form wir dann zusammenarbeiten? Das ist offen. Man muss wirklich etwas bewegen können und das Leben der Menschen besser machen. Sonst sollte man es lassen.

SPIEGEL: Viele in Ihrer Partei fürchten, dass der SPD bei einer Neuauflage von Schwarz-Rot zu wenig Raum für das eigene Profil bleibt. Ist dieses Argument auch falsch?

Nahles: Eine Polarisierung zwischen den Volksparteien ist wichtig, gerade für uns. Was das bewirken kann, haben wir bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen gesehen. Aber in diesen Regionen ist die SPD auch besser verankert, auf Bundesebene. Von Berlin fühlen sich die Menschen vor Ort manchmal vergessen. Das muss sich ändern. Uns ist niemand egal. Ich will, dass sich durch unsere Politik alle in ihrem Quartier, ihrem Dorf oder ihrer Stadt wohl und sicher fühlen. Damit meine ich nicht nur soziale Sicherheit, sondern durchaus auch innere Sicherheit.

SPIEGEL: Da scheinen Sie uns nah an der Analyse Ihres Ex-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu sein. Der hat in einem Essay im SPIEGEL die These aufgestellt, dass die SPD den Kontakt zu ihrer Stammwählerschaft verloren habe – auch kulturell. Die Sozialdemokratie, kritisiert Gabriel, habe zuletzt zu viel grüne und zu wenig rote Politik gemacht und den Rechten die Begriffe Heimat und Leitkultur überlassen.

Nahles: Mit dem Begriff Heimat kann ich viel anfangen. Ich lebe das. In der Eifel, wo ich zu Hause bin, kann man keine Politik ohne Bodenständigkeit machen. Beim Begriff der Leitkultur steige ich aus. Wir haben uns als Sozialdemokraten immer dagegen gewehrt, eine zentrale Idee davon vorzugeben, wie jemand zu leben hat. An das Grundgesetz müssen sich alle halten, das ist klar. Allerdings wäre es falsch zu glauben, dem Arbeiter geht es nur um Lohn und Heimat. Wir sollten soziale Themen nicht gegen andere ausspielen.

SPIEGEL: Gabriel verweist vor allem auf die vielen Widersprüche in der Partei. Ein „Weiter so“ dürfe es nicht geben, hieß es beispielsweise nach dem Wahlabend. Da erscheint es vielen wie Hohn, dass die SPD nun ausgerechnet die Große Koalition fortsetzen will.

Nahles: Es wird kein „Weiter so“ geben, egal in welcher Konstellation Deutschland regiert wird. Wir brauchen weniger Hinterzimmer, mehr Parlament. Wir sind dafür, dass sich die Kanzlerin regelmäßig den Fragen der Abgeordneten im Bundestag stellen muss – wir wollen das durchsetzen, egal ob wir Teil der Regierung sind oder nicht. Frau Merkel tritt in Talkshows auf, warum sollte sie sich nicht auch im Parlament einer echten Debatte stellen? Auch Minister sollten künftig regelmäßig erscheinen müssen. Je mehr wir Politiker öffentlich erklären, wie wir zu Entscheidungen kommen, desto schwerer haben es Populisten, gegen uns Stimmung zu machen. Außerdem sollte das Parlament sich schneller Themen zuwenden, die die Bürger aktuell bewegen. Die „Me-too“-Debatte wurde überall geführt, nur nicht im Bundestag. Das muss anders werden, dazu haben wird bereits einen Antrag im Bundestag eingebracht.

SPIEGEL: In Ihrer Partei ist die Skepsis gegenüber der Union trotzdem weit verbreitet. Wie wollen Sie Ihre Genossen umstimmen?

Nahles: Das Entscheidende sind die Inhalte. Es geht jetzt nicht um 200 Seiten Koalitionsvertrag mit dutzenden Spiegelstrichen. Es geht darum, ob wir uns auf einige grundsätzliche Maßnahmen einigen können, die die den Zusammenhalt in Deutschland und Europa stärken und unser Land strukturell verbessern. Entweder können wir uns in den Gesprächen mit der Union auf solche Vorhaben verständigen, oder wir müssen über andere Formen der Zusammenarbeit nachdenken: eine Minderheitsregierung zum Beispiel oder ein Tolerierungsmodell.

SPIEGEL: Die Kanzlerin hat aber schon deutlich gemacht, dass für sie nur eine Große Koalition infrage kommt.

Nahles: Die Kanzlerin kann nichts ausschließen, was aus unserer Sicht Bestandteil der Verhandlungen ist. Sie sitzt nicht allein am Drücker. Mich wundert schon, dass die Union derzeit unentwegt sagt, was alles nicht geht und wo ihre roten Linien liegen. Besser wäre es, sie würde uns mal inhaltliche Angebote machen, die uns voranbringen.

SPIEGEL: Die Kanzlerin lehnt es zum Beispiel ab, eine Bürgerversicherung einzuführen, wie sie die SPD seit Langem fordert. Wie wichtig ist das Thema für Sie?

Nahles: Die Zwei-Klassen-Medizin ist eines der großen strukturellen Probleme im deutschen Gesundheitswesen. Deshalb sind hier substanzielle Fortschritte erforderlich: Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen wieder den gleichen Beitrag zur Gesetzlichen Krankenversicherung zahlen, die unterschiedlichen ärztlichen Honorare für Privat- und Kassenpatienten müssen auf den Prüfstand.

SPIEGEL: Ein weiterer Streitpunkt ist die Steuerpolitik. Die Union hat angekündigt, die Belastungen von Familien zu senken. Was will die SPD?

Nahles: Auch wir wollen Familien entlasten und den Solidaritätszuschlag abbauen. Wir haben gleichzeitig einen enormen staatlichen Investitionsbedarf in der Bildung, der Kinderbetreuung, beim Wohnen, der Pflege oder auch beim Glasfaserausbau. Wir müssen überlegen, wie wir die Spitzenverdiener stärker an der Finanzierung staatlicher Aufgaben beteiligen können: durch einen höheren Spitzensteuersatz und eine Reichensteuer. Und wir wollen die Abgeltungssteuer abschaffen, Kapital und Arbeit endlich wieder gleich besteuern, das hat auch eine symbolische Bedeutung.

SPIEGEL: Der Vorschlag des französischen Premierministers Emmanuel Macron, einen neuen milliardenschweren Haushalt für die Eurozone aufzulegen, ist in der Union nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen worden. Werden Sie hier Druck machen?

Nahles: Wir haben in den letzten Jahren viel über Vergrößerung und Verbreiterung diskutiert, was wir jetzt brauchen, ist eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben nach der Wahl Donald Trumps viel über die ökonomischen Unterschiede in den USA geredet. In Europa sind sie aber viel größer; so ist das Pro-Kopf-Einkommen Luxemburgs zum Beispiel mehr als vierzehnmal so groß wie das in Bulgarien. Deshalb unterstützen wir Macrons Idee, diese Kluft durch ein Investitionsbudget für die ärmeren Regionen zu verringern. Über die Höhe dieses Etats muss allerdings noch geredet werden.

SPIEGEL: In der Union gibt es gegen die SPD-Pläne in der Steuer-, Sozial- und Europapolitik große Bedenken. Wie wollen Sie da zu einem Kompromiss kommen?

Nahles: Von der Union unterscheidet uns, dass sie zwar regieren will, aber wenig eigene Ideen hat. Das war schon in der letzten Koalition das Problem. Wenn die Union alles ablehnt, frage ich mich, mit wem sie eine stabile Regierung bilden will, von der sie ebenfalls redet. Mit uns jedenfalls nicht. Wir werden Frau Merkel nicht wegen ein paar Überschriften erneut zur Kanzlerin wählen. Nein, es sind strukturelle Veränderungen für eine moderne und gerechte Gesellschaft erforderlich.

SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, eine Koalition nur über zwei Jahre zu machen?

Nahles: Nein. Entweder definieren wir ausreichende Gemeinsamkeiten für strukturelle Veränderungen, dann werden wir auch die vollen vier Jahre benötigen, diese zu einem für alle spürbaren Erfolg zu bringen. Oder sie reichen nicht, dann brauchen wir über eine Koalition gar nicht erst zu reden.