Nordwest-Zeitung: Die USA stehen unmittelbar vor einem Militärschlag gegen Syrien. Wie bewerten Sie als ehemaliger Außenminister die Lage?

Frank-Walter Steinmeier: Syrien ist eine Tragödie. Mehr als 100 000 Menschen sind bereits gestorben in einer Auseinandersetzung, die innersyrischer Konflikt begann und inzwischen zu einem Bürgerkrieg mit unüberschaubaren Fronten geworden ist. Die Staatengemeinschaft darf nicht tatenlos zuschauen. Wer aber allein auf die militärische Logik setzt, verschließt Möglichkeiten für eine politische Lösung.

Eine politische Lösung ist nirgends in Sicht.

Wenn man die Vereinten Nationen ernst nimmt, sollte man zunächst die Erkenntnisse der Inspektoren abwarten, die die Giftgas-Vorwürfe untersucht haben. Außerdem: Wenn politische Lösungen wegen unterschiedlicher Positionen von Russland und den USA schwer sind, heißt das ja nicht, dass die militärische Lösung einfacher ist.

Wie sollte sich Deutschland in diesem Konflikt verhalten?

Deutschlands Aufgabe wäre es gewesen, auf eine Annäherung zwischen Moskau und Washington hinzuwirken und die Eskalation zu vermeiden. Brücken zu bauen, gehörte zur Rolle Deutschlands, als wir in der internationalen Politik noch genügend Gewicht hatten. Deutschland ist aus der Sicht Washingtons kein Player mehr, und die Beziehungen zu Russland hat man komplett schleifen lassen.

Ist angesichts Hunderter mutmaßlicher Giftgas-Opfer Diplomatie noch die richtige Antwort?

Wenn die Vorwürfe zutreffen, darf die Welt nicht schulterzuckend zuschauen. Aber es ist die Verantwortung der Politik, militärische Mittel nur als Ultima Ratio in Betracht zu ziehen. Nächste Woche findet in St. Petersburg ein Gipfeltreffen statt. Obama und Putin werden sich persönlich beteiligen müssen. Es wäre unverantwortlich, letzte Chancen nicht auszuloten, bevor man mit Militärschlägen unwiderruflich Fakten schafft.

Was, wenn man nicht auf Sie hört?

Dann wird das zu einem weiteren Auseinanderdriften der Weltgemeinschaft führen, womöglich für eine sehr lange Zeit.

Was käme im Angriffsfall auf Deutschland zu?

Wenn es dazu kommt, wird man uns wahrscheinlich weder fragen noch um Hilfe bitten.

Die Linkspartei erwägt, nach der Wahl eine rot-grüne Regierung zu tolerieren. Ein willkommenes Angebot?

Ich habe das 2009 ausgeschlossen, weil ich die Linkspartei nicht für regierungsfähig halte. Nach meinem Eindruck ist sie heute noch weiter davon entfernt.

Sie schließen also nicht nur eine Koalition sondern auch eine Tolerierung durch die Linkspartei aus?

Ja.

Der Rest der SPD auch?

Ich kenne keinen führenden Sozialdemokraten, der das anders sieht.

Sie waren Minister unter Angela Merkel und kennen sie gut. Warum ist sie so viel beliebter als der Kanzlerkandidat der SPD?

Frau Merkel hat sich ins gemachte Bett gesetzt, nachdem Gerhard Schröder und seine Regierung die wichtigen und schmerzhaften Reformen auf den Weg gebracht hatten. Seitdem erntet sie Felder ab, auf denen sie nie gesät hat. Und sie verspielt den Vorsprung, den die rot-grüne Regierung für Deutschland erarbeitet hat. Das ist zu wenig für Deutschland.

Der Wirtschaft geht es gut, das Haushaltsdefizit sinkt. Wovon reden Sie?

Der Wirtschaft geht es gut, nicht weil die Regierung, sondern weil die SPD die Weichen richtig gestellt hat. Deutschland ist nicht mehr der kranke Mann Europas. Dazu hat diese Regierung nichts beigetragen. Im Gegenteil: Der Wettbewerbsvorsprung, den wir mühsam erarbeitet haben, wird in ein paar Jahren wieder weg sein, wenn Merkels Chaos in der Energiepolitik nicht beseitigt wird. Und dass die Kanzlerin den Deutschen vor der Wahl nicht die Wahrheit sagt über das Ausmaß der europäischen Krise, passt ins Bild.