Ärgert es Sie, immer wieder als „Russland-Versteher“ bezeichnet zu werden?
Die Leute verwechseln Verstehen mit Verständnis: Ich jedenfalls werde nicht aufhören, den Versuch zu unternehmen, die andere Seite zu verstehen. Deshalb ist „Russland-Versteher“ für mich auch kein Schimpfwort. Was mich aber schon ärgert, sind plumpe Schwarz-Weiß-Kategorisierungen – das hilft uns in unserem Verhältnis zu Russland nicht weiter! Die Welt und auch das russische Verhalten ist widersprüchlich, und Außenpolitik muss lernen, mit dieser Widersprüchlichkeit umzugehen. Meine Überzeugung ist, dass wir miteinander im Dialog bleiben und versuchen müssen, offen und transparent über alle Fragen zu sprechen, die uns beschäftigen. Mehr Sicherheit in Europa schaffen wir nur, wenn es uns gelingt, Russland langfristig wieder in eine internationale Verantwortungspartnerschaft einzubinden.
Die Bemühungen um eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine scheinen zu stocken – kann hier überhaupt noch ein Durchbruch gelingen? Bisher haben die Sanktionen gegen Russland ja scheinbar ihr Ziel nicht erreicht?
Wir stecken momentan in den Verhandlungen in einer entscheidenden Phase: Die Knackpunkte sind identifiziert, Lösungsvorschläge liegen auf dem Tisch, die Vermittlungsbemühungen Deutschlands und Frankreichs im Normandieformat dauern an. Ich glaube, man kann sagen, dass wir in den vergangenen zwei Jahren noch nie so weit waren in den Verhandlungen – aber leider gilt auch, dass wir uns momentan nicht wirklich voran bewegen. Eins ist jedenfalls völlig klar: Einen eingefrorenen Konflikt mitten in Europa können wir uns nicht leisten! Ich habe mich deshalb dafür ausgesprochen, die Sanktionen gegen Russland nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern sie als Instrument einzusetzen – also um Anreize zu schaffen für Verhaltensänderungen, damit wir in einem so entscheidenden Moment weiter vorankommen. Das bedeutet: Schrittweise Sanktionserleichterungen im Gegenzug für substanzielle Fortschritte bei der Umsetzung von Minsk. Unser Ziel ist ja am Ende nicht, dauerhaft Sanktionen gegen Russland aufrecht zu erhalten, sondern endlich den Konflikt in der Ukraine zu lösen!
In der Türkei hat es vor kurzem einen gescheiterten Putschversuch gegeben. Präsident Erdogan regiert seitdem mit noch härterer Hand als bisher. Was bedeutet das für die weitere Entwicklung des Landes?
Der Putschversuch in der Türkei war ein Weckruf für die türkische Demokratie. Bei allem Schrecken ist aber auch deutlich geworden, dass die türkische Gesellschaft nicht erneut unter dem Joch einer Militärdiktatur leben, sondern demokratisch über ihre Zukunft entscheiden will. Ich hoffe sehr, dass die in höchster Not und Bedrängnis gezeigte demokratische Einheit aller maßgeblichen zivilen und politischen Kräfte in der Türkei dazu beitragen kann, die großen Spannungen und tiefen Gräben in der türkischen Gesellschaft zu überwinden. Wichtig hierfür wird sein, dass sich alle Beteiligten ihrer großen Verantwortung für die türkische Demokratie und ihrer Verfassungsordnung bewusst bleiben und auch bei der jetzt notwendigen juristischen Aufarbeitung alle rechtsstaatlichen Grundsätze beachtet werden.