Welt am Sonntag: Peer Steinbrück hat auf Twitter seinen Wahlkampfslogan vorgestellt: „Das Wir entscheidet.“ Haben Sie ihm dazu geraten?
Frank-Walter Steinmeier: Peer Steinbrück erspürt doch ganz richtig, was los ist. Schon in seiner Rede auf dem Parteitag in Hannover hat er unter großem Beifall gesagt, dass wir in dieser Gesellschaft weniger Ich und mehr Wir brauchen. Gerade die europäische Krise führt uns doch eindringlich vor Augen, dass Gesellschaften nur zukunftsfähig bleiben, wenn gesellschaftlicher Wandel nicht vom Egoismus einzelner getrieben wird, sondern Politik den Rahmen setzt, der sozialen Zusammenhalt wahrt und die Bedürfnisse des Gemeinwohls definiert.
Passt der Satz denn zu Steinbrück, der durch Mannschaftsspiel in den vergangenen Jahrzehnten nicht besonders aufgefallen ist?
Ich kenne Peer Steinbrück seit 20 Jahren und habe ihn ganz unterschiedlichen Funktionen mit ihm gearbeitet. Und auch diejenigen, die ihn nur in seiner herausgehobenen Funktion als deutscher Finanzminister in der Finanzmarktkrise erlebt haben, können doch wissen, dass er sich gerade für alle Menschen in Deutschland krumm gelegt hat. Er hat ihre Ersparnisse garantiert und seine Verantwortung immer so getragen, dass die Menschen etwas davon haben.
Steinbrücks Slogan ist schon von einer Zeitarbeitsfirma belegt. Gibt es im Willy-Brandt-Haus keinen, der googeln kann?
Ach Unsinn, der Slogan ist gut und professionell getestet. Er war rechtlich nicht geschützt und dass jetzt alle darüber reden, ist doch gar nicht schlecht. Und es kommt ja nicht zum ersten Mal vor...
... dass Steinbrück sich verstolpert?
Dass gute Slogans inhaltsähnlich von vielen, auch von Unternehmen, benutzt werden. Im Wahlkampf 98, der heute immer als Referenzgröße für guten Wahlkampf gilt, war das auch schon so.
Der getrennte Sportunterricht, die italienischen Clowns, die Heuschecke in seinem Team: Hat Steinbrück niemanden, der ihn vor Peinlichkeiten bewahrt?
Der Start in den Wahlkampf hätte glatter verlaufen können und sollen sagt Peer Steinbrück selbst. Manche gehen aber auch unfair mit ihm um. Gerade weil er jemand ist, der unverblümt und geradheraus formuliert, ist er in der Partei, in der Politik und in der deutschen Öffentlichkeit immer geschätzt worden. Nicht Peer Steinbrück hat sich verändert, sondern der Blick auf ihn. Eine Bemerkung wie zum Kanzlergehalt, die Helmut Kohl in gleicher Form ein paar Jahre zuvor gemacht hat, wird dann zum Aufreger hochstilisiert. Und seine Sorge, dass manche Mädchen aus muslimischen Familien nicht am Sportunterricht teilnehmen können, zum Skandal geschrieben.
Gib es stille Momente, in denen Sie bedauern, dass Sie sich selbst aus dem Kandidatenrennen genommen haben?
Nein. Peer Steinbrück ist die richtige Wahl. Und genau wie er, wäre jeder andere Kandidat von den Medien neu vermessen und zu diesem Zweck gegrillt und getestet worden.
Sie haben im Herbst erklärt, dass Sie aus Rücksicht auf Ihre nierenkranke Frau auf eine zweite Kandidatur verzichtet haben. Sie seien mehr „an der Familienfront gefordert“. Wie verändert eine solche Entscheidung eine langjährige Ehe?
Die Kandidatur für die SPD ist ja nicht nur Ehre, sie ist auch Verantwortung und die Verpflichtung alles andere dahinter zurückzustellen. Mit der aus bekannten Gründen veränderten privaten Situation konnte ich das nicht garantieren. Ich hab es mir nicht leicht gemacht, aber so entschieden.
Wie geht es Ihnen beiden gesundheitlich?
Mit einigen Aufs und Abs im Ganzen gut. Wir haben Glück gehabt; großes Glück!
Ist der Fraktionsvorsitz das schönste Amt, das die SPD zu vergeben hat?
(lacht) Das schönste neben Papst, würde Franz Müntefering vielleicht sagen. Aber ehrlich gesagt hätte ich vor vier Jahren nicht erwartet, dass die Aufgabe gleichzeitig so herausfordernd und befriedigend ist, wie ich das heute empfinde. Damals war viel Neuland und unbekanntes Gelände. Es war nicht selbstverständlich, wie die Fraktion auf einen Vorsitzenden reagiert, der elf Jahre in unterschiedlichen Funktionen Teil der Exekutive war. Aber mein Eindruck ist: Der Umstieg hat ganz gut funktioniert, die Fraktion ist geschlossen und selbstbewusst in der Opposition. Und, was wichtig ist: Sie will dort nicht bleiben. Ich bin gerne Fraktionsvorsitzender. Aber wie es weitergeht, wird nach der Bundestagswahl entschieden.
Ihre Tochter Merit wird langsam erwachsen. Beraten Sie sich in Fragen, die Familie und Beruf betreffen, auch mit ihr?
Ich lass meine Familie mit meinem politischen Alltag eher in Ruhe. Die Zeit, in der man zusammen hockt, ist ohnehin knapp genug. Und dann gibt´s da genügend Kram, der an der Familienfront wichtig ist. Trotzdem: In letzter Zeit war auch Politik häufiger Gesprächsstoff zwischen Vater und Tochter. Nicht nach Details von Rettungspaketen wird gefragt, aber schon, wie das alles so weitergeht und was die Krise mit uns machen wird. Ich freue mich, dass meine Tochter fragt, ich bin mir unsicher, ob die Antworten ausreichen, die wir geben können.
Wie verbringen Sie gemeinsame Freizeit?
Gerade waren wir über Ostern ein paar Tage gemeinsam in Südtirol und haben auf der Suche nach dem Frühling einen wunderbar entspannten Winterurlaub erlebt. Im Alltag sehen wir uns häufiger beim Frühstück, als am Abend. Und wenn ich kann, fahr ich sie zur Schule. Vor kurzem waren wir sogar zusammen im Jazz-Konzert, ohne dass es ihr peinlich war. Also: Ich bin einigermaßen auf dem Laufenden.
Käme ein Regierungsamt, das Abwesenheit von der Familie erfordert, wieder in Frage?
Wir führen dieses Interview um 8 Uhr morgens, weil ich um 9.45 Uhr zum Flieger muss. Unterwegs muss man auch in der Funktion des Fraktionsvorsitzenden sein. Also machen Sie sich keine Sorgen: Ich habe nicht die Absicht mich aus der vorderen Reihe zurückzuziehen. Aber nochmal: Über Funktionen nach der Wahl reden wir, wenn die Zeit reif ist.
DGB-Chef Sommer zeigt Sympathie für eine große Koalition. Wenn es so kommt, können Sie weitermachen, wie Sie 2009 aufgehört haben: als Vizekanzler und Außenminister...
Ich weiß gar nicht, ob er das mit der großen Koalition wirklich so gemeint hat. Die Kanzlerin läuft mit großer Verspätung und am Ende doch nicht ernsthaft einigen Themen hinterher, die die SPD seit Jahren setzt. Michael Sommer wird auch gesehen haben, dass außer Überschriften bei der Union nichts herauskommt – weder beim Mindestlohn noch bei der Frauenquote.
Welche Machtoptionen sehen Sie für die SPD – außer Juniorpartner von Merkel?
Niemand sollte sich zu früh freuen. Die SPD hat einen holprigen Wahlkampfstart gehabt und dennoch in Niedersachsen gewonnen. Das war die zwölfte Landtagswahl in Folge, bei der die SPD in Regierungsverantwortung gewählt worden ist. Wir haben gezeigt, dass wir gewinnen können, wenn wir gemeinsam kämpfen. Das werden wir tun. Und wir haben noch gar nicht richtig begonnen.
Welche Konstellationen schließen Sie aus? Die große Koalition? Eine Ampel? Rot-Rot-Grün?
Ich habe zu Beginn meiner Kandidatur vor vier Jahren eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen. Und ich bin heute noch weniger davon überzeugt, dass diese Partei in der Lage ist, Regierungsverantwortung zu tragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD zu einer Koalition mit der Linkspartei bereit ist oder sich auf eine Tolerierung einlässt. Die große Koalition haben wir hinter uns, nicht vor uns. Unsere Erfahrung von 2009 nach vier Jahren großer Koalition, in der SPD-Minister ohne Zweifel zu Leistungsträgern gehörten, drängt nicht nach Wiederholung.
Wie kommt die SPD aus dem Umfragetief? Es gibt erste Stimmen in der SPD, die von Steinbrück mehr Kampfgeist verlangen...
Wahlkampf kommt von kämpfen. Das können wir besser als die anderen. Die gegenwärtige Regierung bietet genügend Angriffspunkte. Angela Merkel hat die europäische Krise wie einen dicken Teppich über den politischen Stillstand in Deutschland gelegt. Dass es Deutschland in der Krise besser geht als anderen, hat mit dieser Regierung doch wahrlich nichts zu tun. Es werden Felder abgeerntet, auf denen Merkel und Co. nie gesät haben. Schlimmer noch: Schwarz-Gelb ist dabei, den Reformvorsprung, den die Schröder-Regierung mit Risiko und eigenen Opfern erarbeitet hat, zu verfrühstücken. Jetzt müssen doch die Weichen gestellt werden, damit wir auch in zehn Jahren noch zu den erfolgreichsten Volkswirtschaften in Europa und weltweit gehören. Aber die Merkel-Regierung tut nichts dafür.
Die Wirtschaft fürchtet vor allem Ihre Steuererhöhungspläne. Für Arbeitgeberpräsident Hundt bedeuten sie schwerste Belastung für die deutschen Unternehmen seit dem Zweiten Weltkrieg...
Es ist doch wirklich eine Geschichtslüge, wenn die Sozialdemokraten als Steuerfetischisten verteufelt werden. Unter Union und FDP haben alle – auch die Unternehmen – höhere Steuern gezahlt als zu SPD-Zeiten. Unsere Steuerpolitik und die Agenda 2010 haben das Land wieder in Schwung gebracht. Wir stehen jetzt, im fünften Jahr der Krise, vor einer doppelten Aufgabe: Wir müssen die Staatsverschuldung nachhaltig reduzieren und gleichzeitig stärker in Bildung und Infrastruktur investieren.
Der Staat nimmt Steuern ein wie noch nie.
Wer beides will – Schulden abbauen und in die Zukunft investieren – muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Spitzensteuersatz nicht zum Tabu erklären können.
Die SPD hat die Krisenpolitik der Kanzlerin bisher unterstützt. Stimmen Sie im Bundestag auch dem Rettungsplan für Zypern zu?
Ich bin immer noch fassungslos über das, was unter Beteiligung von Merkel und Schäuble auf dem letzten europäischen Gipfel stattgefunden hat: Die Finanzminister sind mit einer erkennbar untauglichen Lösung an die Öffentlichkeit gegangen und haben nicht einmal 24 Stunden später alles wieder eingerollt. Dass die Kleinsparer nicht die Verursacher der zyprischen Bankenkrise sind und nicht ernsthaft die Hauptlast am Rettungspaket tragen können, muss doch jedem klar sein. Erst im dritten Anlauf ist ein Vorschlag gelungen, der den einzig tragfähigen Weg zu einer Lösung für Zypern aufzeigt. Ich betone: für Zypern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Lösung zum Modellfall für künftige Krisen wird.
Heißt übersetzt: Merkel kann sich auch bei Zypern auf die SPD verlassen.
Frau Merkel interessiert mich da überhaupt nicht. Aber die Menschen in Deutschland können sich auf die SPD verlassen, dass wir alles tun werden, um Arbeitsplätze und die Stabilität unserer Wirtschaft zu sichern und das Projekt Europa nicht zu gefährden. Und sie können sich darauf verlassen, dass wir jede einzelne Entscheidung dahingehend überprüfen, ob sie tragfähig ist. Auf den ersten Blick sieht das hier besser aus als beim ersten Versuch, aber wir werden es uns noch genau anschauen.
Je mehr Deutschland hilft, desto stärker wird die Kanzlerin angefeindet. Demonstranten in Krisenstaaten zeigen Merkel vorzugsweise mit Hitler-Bart...
Keine Frage: Das ist nicht akzeptabel! Es ist leider kein seltenes Phänomen, dass die Gründe für Unzufriedenheit außerhalb der eigenen Grenzen und bei den europäischen Institutionen gesucht werden. Das kennen wir auch bei uns. Trotzdem: Die Menschen in den Notlagenländern sehen nicht genügend genau, in welchem Ausmaß nationale Politik für die Misere verantwortlich ist.
Kippt die Stimmung in Europa?
Der Ton in Europa verändert sich erkennbar. Ich wünsche mir dringend, dass manche Überheblichkeit, wie ich sie in der öffentlichen Rhetorik der Bundesregierung antreffe, eingestellt wird. Ein wenig Sensibilität reicht doch aus, um zu wissen: In einer Situation, in der es fast nur noch Deutschland gut geht in Europa, löst der Satz „In Europa werde wieder Deutsch gesprochen“, mehr als nur Beunruhigung aus. Ich frage mich: Wie hätten wir reagiert, wenn andere Europäer ähnlich hochmütig mit uns umgegangen wären, als Deutschland am Schluss der europäischen Wachstumstabelle war? Auch wir haben um Zeit und Geduld bitten müssen, um unsere Hauaufgaben zu machen. Wir haben sie gemacht! auch wenn die Parteien der jetzigen Koalition daran gänzlich unbeteiligt waren.
An diesem Sonntag gründet sich in Deutschland eine neue Partei, die eine Rückkehr zur D-Mark propagiert: die Alternative für Deutschland. Was setzen Sie ihr entgegen?
Natürlich müssen uns Parteineugründungen interessieren – erst recht solche, die versuchen, aus einer komplizierten europäischen Krisenlage populistisch Nutzen zu ziehen. Das ist nicht ungefährlich für Parteien, die europäische Vernunft wahren und den Laden zusammenhalten wollen. Aber ich vertraue darauf, dass die Deutschen wissen: Jahrzehnte europäischer Integration haben uns Frieden und Prosperität gebracht. Und in einer veränderten Welt, mit neuen riesigen Mitspielern in Fernost und Südamerika, werden wir nur dann eine Rolle spielen, wenn wir unsere Kräfte europäisch bündeln.