Es sei jedenfalls kein einfacher Begriff, den die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sich vorgenommen hätten, sagt der Zukunftsforscher Matthias Horx. Denn Gerechtigkeit bedeute in einer individualisierten Gesellschaft für jeden einzelnen etwas anderes. Die Konservativen hätten es mit dem Begriff des „Bewahrens“ wesentlich einfacher. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann widerspricht: Gerade die Konservativen könnten heute keine einfachen Antworten mehr geben. „Man kann den Leuten heute nicht mehr sagen, dass alles so bleibt wie es ist, weil es nicht stimmt“, stellt Oppermann klar. Angesichts der Flüchtlingskrise zeige sich zum Beispiel, dass Deutschland Veränderung brauche. „Wir brauchen eine neue Einwanderungspolitik, eine neue Integrationspolitik.“
Flexibilität vs. Sicherheit
Die Diskussion zeigte schnell, wie vielschichtig der Begriff Gerechtigkeit ist. Für die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs geht es bei „Neuer Gerechtigkeit“ vor allem um die neuen Arbeitsmodelle. Konkret geht es ihr um ein gerechteres Verhältnis zwischen Flexibilität und Sicherheit. Die Generation der Anfang Dreißigjährigen leiste sehr viel und sei bereit, Verantwortung zu übernehmen. Das Problem: Die Sozialsysteme seien immer noch ausschließlich auf Normalarbeitsverhältnisse ausgerichtet. „Viele von uns wollen oder können nicht 40 Jahre im gleichen festen Job arbeiten, sondern haben den Wunsch nach Flexibilität“, sagt Friedrichs. Dafür fehle es aber an einer Grundsicherheit. Friedrichs beklagt, dass sie als Freiberuflerin mit diesen Fragen weder bei den Gewerkschaften noch bei den Parteien zufriedenstellende Antworten bekommt. „Wir brauchen einen Staat, bei dem man sich als Freiberufler in ein paar Punkten verlassen kann.“
Thomas Oppermann sieht das ähnlich: Die Politik müsse auch denjenigen Antworten, Perspektiven und Sicherheiten geben, die nicht „normal“ arbeiteten. „Wir müssen für Selbstständige sozialstaatliche Lösungen finden, die ihnen Sicherheit geben.“ Konkret nannte er die Rahmenfrist für den Bezug von Arbeitslosengeld I, die die SPD-Fraktion ausweiten will.
Matthias Horx sagt, dass es in Deutschland eine Sehnsucht nach dem alten Arbeitsmodell gebe. Das zeige sich auch am fehlenden Gründergeist. Um das zu ändern brauche es auch soziale Innovationen. Die Skandinavischen Länder hätten hier eine komplett andere Kultur. Konkret: Sie vertrauen darauf, dass der Staat ihnen fördernd und fordernd zur Seite steht, wenn sie mal scheitern oder ihren Job verlieren. Hierzulande werde hingegen vom Staat nur gefordert. „Er muss es immer richten“, kritisiert Horx. Dieses Problem sieht er schon im Gerechtigkeitsbegriff angelegt. In Deutschland bedeute Gerechtigkeit vor allem Umverteilungsgerechtigkeit. „Wer Gerechtigkeit sagt, meint immer zuerst ‚Gerechtigkeit für mich‘.“
Neue Antworten auf alte Fragen
Julia Friedrichs sieht Umverteilung positiv – vor allem bei Vermögen. Sie warnt davor, mit der Diskussion um eine neue Gerechtigkeit die alten Probleme aus dem Blick zu verlieren. Sie sieht zwei große, „alte“ Gerechtigkeitslücken: Zum einen die große Kluft zwischen jenen, die nur arbeiten und jenen, die noch dazu Besitz und Vermögen haben. Diese Lücke schließe sich nicht von alleine, sondern nur durch Umverteilung. Zum anderen gebe es nach wie vor keine Bildungsgerechtigkeit. Ein Aufstieg durch Bildung sei nicht ohne weiteres möglich.
Gerade das Thema Bildungsgerechtigkeit treibt auch Thomas Oppermann um: „Kinder aus ärmeren Schichten müssen ganz andere Hürden überwinden, wenn sie nach oben durchkommen wollen.“ Das Problem sei, dass dort, wo am stärksten über die Entwicklung dieser Kinder entschieden wird – in der Kita und der Grundschule – am wenigsten Geld ausgegeben werde. „Die Ressourcen sind im Bildungssystem falsch verteilt“, sagt Oppermann.
Gerade beim Thema Bildung wurde in der Diskussion klar: Oft geht es bei „Neuer Gerechtigkeit“ auch um die alten Fragen. Mit ihrem Projekt Zukunft sucht die SPD-Fraktion jetzt nach neuen Antworten - und lädt die breite Bevölkerung zum Dialog ein.
Livestream-Mitschnitt der Zukunftskonferenz ("Zukunftsgespräch")
Foto-Impressionen der gesamten Zukunftskonferenz
Mit der "Zukunftskonferenz" hat die SPD-Bundestagsfraktion am 21. September 2015 ihre Reforminitiative "Projekt Zukunft - #NeueGerechtigkeit" gestartet. Im Dialog mit Bürgern und Fachleuten wollen die SPD-Abgeordneten Antworten auf zentrale Zukunftsfragen erarbeiten. Machen Sie mit!