In seiner Rede beim Festakt für Egon Bahr erinnerte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier an die "legendäre Rede", die der Architekt der Ostpolitik vor fast 50 Jahren gehalten und die Geschichte gemacht hat: Unter dem Titel "Wandel durch Annäherung" skizzierte Bahr damals die Grundzüge der neuen Ostpolitik, mit der Bundeskanzler Willy Brandt wenige Jahre später die Grundlage zur Überwindung der deutschen Teilung legte. Vor wenigen Wochen ist Egon Bahr 90 Jahre alt geworden.

Exzellenzen, Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Martin Schulz, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, llieber Egon,

Politik - den Praktikern hier im Saal sage ich damit nichts Neues - ist meistens ein ziemlich nüchternes, trockenes und mühseliges Geschäft.

Allzu oft hat man es mit komplizierten Details, mit juristischen Winkelzügen, mit zähen Verhandlungen und aufdringlichen Lobbyisten zu tun. Das ist der Alltag, und über den soll sich niemand beschweren, der sich Politik zum Beruf gewählt hat. Aber jenseits der Mühen des Alltages dürfen auch Politiker manchmal träumen. Und wenn sie das tun, dann träumen sie vielleicht davon, wie sie mal nicht an Paragraphen feilen und in Hinterzimmern Kompromisse ausklügeln. Sondern vielleicht davon, wie sie mit einer einzigen großen Rede die Welt verändern.

Den wenigsten wird das im Laufe einer langen Karriere gelingen. Und von den wenigen, denen es doch gelingt, erlebt wiederum nur ein kleiner Bruchteil, wie die eigenen Ideen und Visionen noch zu Lebzeiten Wirklichkeit werden. Wem beides vergönnt ist, und wer dann noch über mehrere Jahrzehnte die eigene Wirkungsgeschichte verfolgen und begleiten kann, für den haben sich Politikerträume realisiert.

Nicht viele können das von sich behaupten. Einen, der das ganz sicher kann, habe ich heute die Freude und die Ehre, besonders zu würdigen. Lieber Egon Bahr, vor rund vier Wochen haben wir Deinen 90. Geburtstag gefeiert. Du hast viele Glückwünsche und Ehrbezeugungen entgegengenommen, viele Artikel sind erschienen, in denen die Stationen Deines bewegten Lebens noch einmal nachgezeichnet wurden.

Die heutige Veranstaltung setzt gewissermaßen den Schlusspunkt unter die Würdigungen zu Deinem runden Geburtstag. Aber in gewisser Weise ist sie auch schon ein Vorgriff auf das nächste Jubiläum, das Du im kommenden Jahr über Dich wirst ergehen lassen müssen. Denn dann wird überall in Deutschland und Europa an Deine legendäre Rede erinnert werden, die Du vor dann 50 Jahren, im Jahr 1963, beim Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing gehalten hast. Diese Rede hat Geschichte gemacht. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie am Ende auch die Welt verändert hat.

„Wandel durch Annäherung“ hieß der Titel und ich muss hier in diesem Saal niemandem mehr erläutern, was sich mit dieser Formel in den Folgejahren nach 1963 verbunden hat.

Egon Bahr hat in den gut zehn Jahren nach seiner Tutzinger Rede auf seine eigene Weise erlebt, was die Mühen der politischen Ebene sind.

Seine Anekdoten über diese Zeit sind zahlreich und legendär. Und sie halten einen gewissen Trost für all jene Politiker bereit, denen die eine historische Rede bislang verwehrt geblieben ist. Denn am Ende war es dann doch nicht eine Rede alleine. Es war mühevolle Kleinarbeit, zähe Verhandlungen, ermüdende Textarbeit, und diese für Egon Bahr so typische und  unverwechselbare Mischung aus List und Geschick, Geduld und Beharrlichkeit, mit der es gelungen ist, den Lauf der Dinge zu verändern.

Die sogenannte Neue Ostpolitik ist heute fester Bestandteil aller Geschichtsbücher und sie ist untrennbar mit dem Namen Egon Bahrs verbunden.

Diese Politik hat den Keim zur Überwindung der deutschen Teilung und zur Vollendung des Projekts der Europäischen Einigung gelegt. Und das alleine wäre Grund genug für Ehrung und Würdigung.

Aber es geht um mehr als einen bestimmten Abschnitt deutscher Geschichte, um mehr als ein besonders gelungenes Kapitel deutscher Außenpolitik in einer einmaligen historischen Konstellation.

„Wandel durch Annäherung“ – diese Formel das hat sich über die Jahre entwickelt zum Synonym für eine bestimmte Art, Außenpolitik zu betreiben. Zur Chiffre für eine Politik, die Realismus und Prinzipientreue verbindet, die Brücken über ideologische Gräben schlägt, die Dialog auch in kritischen Phasen ermöglicht und die den Boden für Konfliktlösungen auf diplomatischem Weg bereitet. Eine solche Politik hat an Aktualität – leider möchte man fast sagen – auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts noch lange nichts verloren.

Das Jahr 1989 markiert ganz zweifellos einen Epochenbruch, eine Zeitenwende. Damals hat sich erfüllt, was Egon Bahr über viele Jahre um- und angetrieben hat: Das Ende der deutschen und europäischen Teilung. Aber viele überschießende Hoffnungen und Erwartungen blieben eben auch unerfüllt. Die Friedensdividende fiel, wie wir inzwischen alle wissen, am Ende deutlich geringer aus, als viele damals erwartet und gehofft haben.

1989/1990 war eben nicht das Ende der Geschichte. Der von manchen euphorisierten Analytikern prophezeite weltweite Siegeszug des demokratischen Rechtsstaats hat nicht stattgefunden. Wir sollten neue Systemantagonismen nicht herbeireden. Aber wir sollten uns auch keine Illusionen darüber machen, dass die westlichen Demokratien in den Vereinten Nationen nach wie vor eine Minderheit sind. Und deshalb bleibt die Politik eines „Wandels durch Annäherung“ ein sehr modernes Konzept. Ein Konzept, das im Angebot einer Modernisierungs-partnerschaft mit Russland, im kritischen Dialog mit schwierigen aber unverzichtbaren Partnern wie China, in zahlreichen Assoziierungsabkommen der EU mit unterschiedlichen Staaten und Regionen der Welt seine Fortsetzung findet.

Und so, wie uns die Grundphilosophie der Entspannungspolitik bis heute ein wichtiger Leitfaden in der Außenpolitik geblieben ist, so ist uns ihr Erfinder bis heute ein wichtiger Impuls- und Ratgeber geblieben. Und weil das so ist, erinnern wir heute zum einen an die großen historischen Verdienste Egon Bahrs. Das kann an so einem Tag wie heute gar nicht anders sein.

Aber wir wollen uns darauf nicht beschränken. Wir – und das heißt vor allem Egon Bahr selbst - wollen uns vielmehr jenem Thema zuwenden, das wie kein anderes seit Monaten, im Grunde seit vier Jahren, Politik und Öffentlichkeit in Atem hält. Seit dem Sommer 2008 befindet sich die Europäische Union in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise ihrer Geschichte. Es geht vorderhand um die Zukunft der gemeinsamen Währung. Aber inzwischen geht es längst um viel mehr: um nicht weniger nämlich als die Zukunft der Europäischen Integration.

Viele Menschen, die sich in dem komplexen Geflecht von globalen Finanzmärkten und staatlichen Budgets, von nationaler und europäischer Wirtschaftspolitik, von Verschuldungsspiralen und Rettungspaketen gar nicht im Detail zurecht finden, spüren gleichwohl, dass sich etwas grundlegend ändern muss. Dass die Staaten als Einzelne der Sache nicht mehr Herr werden. Dass sie Gefangene der Finanzmärkte sind. Dass mit Blick auf die Staatshaushalte etwas bedenklich aus dem Ruder gelaufen ist.  Dass wir drohen, gegenüber dynamischen Weltregionen wie Asien oder Südamerika ins Hintertreffen zu geraten.

Dieses diffuse Unbehagen nährt Zweifel daran, ob die EU wirklich noch der richtige Rahmen ist, um unsere Probleme zu lösen und Sicherheit und Wohlstand zu garantieren. Dieser Vertrauensverlust ist besorgniserregend genug. Was mich aber noch viel mehr umtreibt, das ist die Reaktion der politischen Eliten auf die latente Vertrauenskrise: Statt den Zweifeln entgegenzutreten, wird mit ihnen sogar noch gespielt und taktiert! Wenn in Ungarn Grundrechte im Interesse eines dauerhaften Machterhalts gnadenlos geschliffen werden, wenn das europäische Führungspersonal – in Frankreich, vor einigen Monaten auch in Dänemark - leichtfertig Kernerrungenschaften wie die Freizügigkeit in Frage stellt und am rechten Rand fischt, dann ist das ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Denn es nährt den Keim eines neuen Nationalismus in Europa, den es längst nicht mehr nur an den Rändern unserer Gesellschaften gibt.

Wer sich alleine an den Schlagzeilen der großen Tageszeitungen orientiert, der könnte den Eindruck haben, die schlimmste Phase der europäischen Krise läge inzwischen hinter uns. Vor dieser Illusion kann ich nur warnen. Die Fliehkräfte, die innerhalb der Union wirken, sind nicht gebannt, die Krise ist es auch nicht.

Wir werden uns in den kommenden Wochen und Monaten – in Deutschland und überall in Europa – mit weitreichenden Entscheidungen zu befassen haben. Es geht um komplizierte Details, um schwierige verfassungsrechtliche Fragen, um Beteiligungsrechte des Parlaments, um Haushaltskonsolidierung und Wirtschaftswachstum.

Am Ende aber geht es, jenseits der Lösung vieler bedeutender Einzelprobleme, um eine entscheidende Frage: Was müssen wir tun, um die Zukunft des Projekts der Europäischen Integration zu sichern? Und sind wir bereit dazu, die dafür notwendigen Schritte zu gehen – auch wenn sie an die Grundfeste des Nationalstaats alter Prägung rühren?

Es fällt im alltäglichen Klein-Klein, in der Auseinandersetzung mit den Feinheiten und Stolperfallen von Fiskalpakten und Schuldenregeln, nicht immer leicht, sich den Blick für die großen Linien zu bewahren. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Du, lieber Egon, Dir für die heutige Veranstaltung das Thema Europa ausgewählt hast.

Du bist einer unter wenigen, dessen historischer Horizont noch zurückreicht bis in die dunkelsten Phasen deutscher und europäischer Geschichte. Einer, der sich wie kaum ein zweiter die Überwindung der europäischen Teilung zur Aufgabe gemacht hatte. Und einer, der gerade deshalb besonders gut ermessen kann, welche politische Leistung es darstellt, dass dies am Ende gelungen ist.

Lieber Egon, Du hast Dir die Vorstellung eines wiedervereinigten Deutschlands über Phasen hinweg bewahrt, in denen selbst die größten Optimisten dies als politische Spinnerei abgetan haben. Du hast Dir durch Deine Konsequenz und Unbeirrbarkeit gelegentlich sogar den Vorwurf eingehandelt, ein deutschnationaler Linker zu sein.

Heute bleibt uns nichts, als Dir für Deinen deutschlandpolitischen Starrsinn von damals zu danken. Und wir sind gut beraten, Dir sehr genau zuzuhören, was Du uns zur Zukunft des Europäischen Projekts zu sagen hast. Lieber Egon, Du hast das Wort!