Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hoffnung macht sich breit in Deutschland,

(Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Aber nicht bei der SPD!)

Hoffnung, dass die Krise überstanden ist, dass der Aufschwung länger anhält als nur ein paar Monate. Wir alle wünschen uns parteiübergreifend und fraktionsübergreifend, dass diese Hoffnung in Erfüllung geht. Auch auf der Regierungsbank macht sich Hoffnung breit, aber eine andere Hoffnung, die Hoffnung nämlich, dass die Erinnerung verblasst und dass die Menschen vergessen, was diese Koalition seit der Bundestagswahl tagtäglich angerichtet hat und weiter anrichtet.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)

Aber ich sage Ihnen voraus: Diese Hoffnung wird vergebens sein, sie wird sich als Kinderglaube erweisen. Die Menschen   das wissen Sie doch am besten  , die Sie vor einem Jahr gewählt haben, haben vielleicht von politischer Führung oder von der Einlösung von Wahlversprechen geträumt. Was haben sie bekommen? Einen Albtraum, Regierungschaos ohne Ende.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)

So viel Durcheinander, so viel Orientierungslosigkeit, so viel Unernst war noch nie.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Albtraum Arbeitslosigkeit!)

- Ja, und dagegen haben wir etwas getan, lieber Herr Kollege Kauder.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Wir!)

Der Schreck darüber, wie sich das im Augenblick darstellt, sitzt tief bei vielen Menschen. Der Schreck hält an. Gerade in der Krise 2008 und 2009 haben die Menschen doch erfahren, dass man sich in einer solchen Situation auf eine Regierung mit Ernsthaftigkeit, mit Kompetenz und mit Verantwortung verlassen kann. Das ist gerade einmal anderthalb Jahre her. Da ist wieder Vertrauen entstanden, das vorher verloren gegangen war. Das Dramatische ist doch, dass diese Koalition innerhalb eines Jahres dieses frisch gewachsene Vertrauen restlos verschleudert hat.

(Beifall bei der SPD   Norbert Barthle (CDU/CSU): Geschichtsklitterung nennt man das!)

Die Menschen haben gesehen, dass es darauf ankommt, wer in einer Regierung ist, nicht darauf, dass es eine gibt. Sie haben in den letzten Monaten erfahren, dass es auch anders sein kann, dass es Regierungen gibt, die um den eigenen Bauchnabel kreisen, statt sich um die wirklichen Aufgaben zu kümmern, und die schamlos   das taten Sie zu Beginn Ihrer Regierungszeit   das eigene Klientel bedienen, statt sich um das Gemeinwohl zu kümmern. Das hat sich tief bei den Menschen eingebrannt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie alle reden ganz gerne von den bürgerlichen Tugenden. Das haben wir in diesem ersten Jahr gemerkt. Alle, die dort sitzen, hätten viele Gelegenheiten gehabt, jeden Tag des ersten Jahres dieser Regierungszeit diese Tugenden zu leben: Mut, Verlässlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Pflichtbewusstsein, Fairness und Loyalität untereinander   ich könnte die Aufzählung fortsetzen. Aber will jemand in diesem Saale wirklich ernsthaft behaupten, das seien die Markenzeichen dieser Regierung?

(Zurufe von der CDU/CSU: Ja!)

Die Menschen lachen doch inzwischen, wenn sie das hören. Wenn Sie von bürgerlichen Tugenden reden, ist das eine Karikatur. Das können Sie nicht ernst meinen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie, Frau Merkel, überschätzen Ihre Lage. Vergangene Woche haben Sie gesagt: Der Stil war vielleicht verbesserungsfähig, aber die Ergebnisse stimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben auch noch die Frechheit besessen, diese Plattitüde in einem Brief millionenfach in allen Zeitungen abzudrucken.

(Sören Bartol (SPD): Eine Schweinerei ist das! Steuergeldverschwendung!)

Dann haben Sie in diesem Brief geschrieben: „Jetzt geht der Blick nach vorne.“ „Sapperlot!“, habe ich gedacht, „So will sie sich also aus der Affäre stehlen.“ Ich finde, das ist auf der einen Seite dreist, auf der anderen Seite ignorant. Ich spüre doch: Die Menschen wollen im Augenblick keine neuen Versprechungen hören, nicht eine, nicht zwei, nicht drei, nicht vier. Was sie vielmehr erwarten, das ist eine Erklärung für das Trauerspiel, das wir in diesem ersten Jahr erlebt haben. Sie wollen wissen, wann diese Koalition endlich in der Regierung ankommt und warum man Ihnen glauben soll, dass es besser wird.

Aber es wird doch nicht besser; das haben wir doch letzte Woche gesehen. Vor dem Koalitionsausschuss haben Sie selbst Ankündigungen gemacht. Sie haben die Öffentlichkeit informiert, was dort angeblich alles auf der Tagesordnung steht. Aber als Sie zusammengesessen haben, als es ernst wurde, gab es dann wieder einen Komplettausfall. Das, was ich schon gesagt habe, gilt: Aus dem Herbst der Entscheidungen, den Sie angekündigt haben, ist wieder einmal eine Woche der Vertagung geworden. Diese Art von Regierungsverweigerung, diese Art von Führungsverweigerung können wir diesem Land nicht noch drei Jahre zumuten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer sich den Brief einmal ein bisschen genauer angeschaut hat, den Sie da haben abdrucken lassen, der ahnt ungefähr, warum das alles so weitergeht. Das beginnt schon mit dem Zeitpunkt, zu dem dieser Brief abgedruckt worden ist. Ich weiß nicht, ob es das jemals gab. Ich finde es unglaublich, dass hier Steuergeld benutzt wird, um einen Parteitag der CDU zu finanzieren und zu promoten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Thomas Oppermann (SPD): Schamlos!)

Das ist leider nicht der einzige Widerspruch, auf den ich hier in diesem Hause hinzuweisen habe. Wir reden über den Haushalt. Der vorgelegte Haushalt sieht eine Neuverschuldung von 48 Milliarden Euro vor. Gleichzeitig versprechen Sie in diesem Brief, Sie wollten in diesen Tagen solide Finanzen sichern. Ich fordere Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, auf, erst einmal die Millionenausgaben für diese teuren Anzeigenkampagnen zu sparen, mit denen Sie Ihre eigenen parteipolitischen Ziele promoten. Dafür ist das Geld nicht vorgesehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Außerdem steht in diesem Brief: „Wir sparen an vielen Stellen, aber nicht an der Zukunft.“ Hier im Bundestag, Frau Merkel, haben Sie in jeder Plenarsitzung die Chance, Politik zu erklären, und das ganz kostenlos. Da oben sitzen Journalisten, die schreiben das sogar auf, auch kostenlos. Ihr Risiko ist nur: Sie werden nachprüfen, ob das stimmt, was Sie hier sagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden morgen schreiben: Das, was Sie hier als Haushalt vorlegen, bedeutet die zweithöchste Nettoneuverschuldung in der Geschichte der Republik; trotz Wirtschaftsboom mehr Schulden als unter Theo Waigel am Ende der Regierung Kohl, und damals war immerhin noch die deutsche Einheit zu finanzieren.

Wir müssen unseren Blick aber nicht nur auf diesen Haushalt, sondern auch auf die mittelfristige Finanzplanung richten. Milliardenschwere Löcher sind jetzt schon abzusehen. Wann drohen wohl die größten Löcher? Genau im Jahr nach der nächsten Bundestagswahl 2014. Dann sind Luftbuchungen in der Größenordnung von 11 Milliarden Euro vorgesehen: globale Minderausgaben, nicht ausreichende Mittel für die Bundeswehrreform, und so geht das weiter. Steuereinnahmen aus dem Wachstum fallen Ihnen allen hier von den Regierungsfraktionen in den Schoß. Sie nehmen Luftbuchungen vor. Das entspricht weder bürgerlicher Tugend, noch ist es ehrlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN   Volker Kauder (CDU/CSU): Reden Sie mal zur Sache!)

Das Ganze ist auch kein Geheimnis. Ich sage das, um gleich zu der Erklärung zu kommen, warum dieser Haushalt so aussieht: Ich weiß natürlich, Frau Merkel, dass viele in den Regierungsfraktionen, besonders von Ihrem Koalitionspartner FDP, sich schon wieder an Steuersenkungen orientieren. Wenn ich die Zeitungen richtig lese, dann tun Sie selbst im Augenblick so, als seien Sie dagegen. Aber ich wette, heimlich werden Sie für das Wahljahr schon eine Steuersenkung vorbereiten. Herr Schäuble legt   man erkennt es, wenn man genau hinschaut   dafür ja schon Reserven an. Das geht nach dem Motto: die Schuldenbremse ein bisschen aushöhlen, 42 Milliarden Euro mehr Spielraum für Schulden schaffen, um dann pünktlich im Wahljahr Steuersenkungen zu machen.

Nur, das ist erkannt. Die Bundesbank, der Bundesrechnungshof, der Sachverständigenrat  sie alle mahnen. Hören Sie auf, an dieser Stelle zu tricksen. Wenn Spielraum vorhanden ist, dann haben Sie die Neuverschuldung zu reduzieren. So ist das vorgesehen, so haben wir es gemeinsam in die Verfassung geschrieben.

(Beifall bei der SPD)

Aber Fakt ist: Sie halten sich nicht daran, meine Damen und Herren von der Regierung.

(Beifall bei der SPD)

Das ist einer der Gründe, weshalb die Menschen Ihnen   das spüren Sie doch   nicht glauben. Sie glauben Ihnen nicht nach drei kompletten Kurswechseln innerhalb von sieben Jahren. Frau Merkel, vor sieben Jahren waren Sie marktradikale Vorkämpferin beim Leipziger Programm. Zu Zeiten der Großen Koalition wären Sie am liebsten sozialdemokratischer gewesen als die Sozialdemokraten. Ein Jahr später kommen Sie jetzt als neue Konservative daher. Deshalb frage ja nicht nur ich mich, sondern fragen sich viele in der Öffentlichkeit: Was ist der Kompass? Wofür steht diese Regierung? Was ist das Ziel? Wo wollen Sie hin? Was ist Ihre Vorstellung von Gesellschaft? Mal hü, mal hott und jeden Tag neuer Streit: mal Brüderle gegen Röttgen, mal Westerwelle gegen Guttenberg und immer Seehofer gegen alle. Dieser kleinkarierte, eitle Profilierungsstreit statt ernsthafter Politik verleidet den Menschen Politik, und das bringt sie weg von der Politik. Das schadet allen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Reden und Handeln, das liegt halt bei dieser Regierung ein deutliches Stück auseinander, und diesen Widerspruch empfinden die Menschen doch. Herr Brüderle klopft sich öffentlich auf die Schultern und sagt: Das, was wir da haben   wir werden das heute ja noch ein paarmal hören  , ist Aufschwung XXL.

(Beifall bei der CDU/CSU und FDP)

Dann können Sie gleich nochmal klatschen,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sagen Sie es erst mal! Das entscheiden wir dann schon selber!)

weil ich Ihnen sage: Derjenige, der so redet, hat gegen alles gestimmt, was diesen Aufschwung begründet hat.

(Beifall bei der SPD)

Er hat gegen das Konjunkturprogramm, gegen das Investitionsprogramm für Gemeinden, gegen die Brücke für die Automobilindustrie und gegen das Kurzarbeitergeld gestimmt. Das alles hat funktioniert, aber es wäre doch mit der FDP nicht gekommen. Das ist doch die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD  Volker Kauder (CDU/CSU): Da können wir nicht klatschen, weil das Quatsch ist!)

Dann kommt noch eines hinzu. Wir werden im Laufe des heutigen Tages noch häufiger über Europa reden. Auch da ein interessanter Blick auf Ihren Koalitionspartner, Frau Merkel, und, weil wir über Irland reden, auch ein Blick auf Irland: Es war doch Ihr Koalitionspartner, der hier in diesem Hause Irland immer zum Modellpartner in der Europäischen Union erklärt hat. Er hat erklärt, daran müssten wir uns alle orientieren. Das war doch für Sie von der FDP das leuchtende Beispiel für ungehinderten Wirtschaftsliberalismus. Dort gab es einen Regierungschef   nicht mehr lange   aus Ihrer eigenen Parteienfamilie. Ich bin froh, dass wir uns daran nicht orientiert haben.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin froh, dass die FDP damals nicht in der Regierung saß, sonst säßen wir heute in demselben Schlamassel wie Irland.

(Beifall bei der SPD)

Wir reden ja nicht nur über die Fraktionen hier im Deutschen Bundestag, sondern auch über die Menschen, für die Politik gemacht wird. Wenn diese Ihren Satz vom „Aufschwung XXL“ hören, dann fragen sie sich doch: Was bedeutet das eigentlich für mich? Wann kommt dieser Aufschwung XXL bei mir an? Was wird eigentlich aus den Versprechen der Regierungsparteien, dass am Ende mehr Netto vom Brutto übrig sein soll? Die wissen doch inzwischen, dass das eine grandiose Täuschung war. Sie wissen doch, dass sie zum 1. Januar nächsten Jahres mehr Beiträge bezahlen müssen, aber nicht mehr netto haben werden.

Ich sage Ihnen mit Blick auf die Gesundheitsreform: Da hätten wir keine Überhöhung mit bürgerlichen Tugenden gebraucht. Angebliche Gesundheitsreformen mit Beitragserhöhungen hätten auch andere gekonnt.

(Beifall bei der SPD)

Aber das ist ja noch gar nicht der Punkt, wenn es um Gesundheit geht. Der eigentliche Punkt ist ja, in welche Richtung diese Reformschritte, die wir da gegenwärtig erkennen, aber die den Namen „Reform“ nicht verdienen, wirklich gehen und welches Ziel damit verfolgt wird. Das, was da gemacht wird, ist doch entgegen allen Versprechungen alles andere als fair. Das ist   lassen Sie es mich vorsichtig sagen   nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Aufkündigung des Solidarprinzips im Gesundheitswesen. Darüber reden wir, und darüber müssen wir auch heute reden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich erinnere mich noch sehr gut an die ersten Wochen und Monate dieser Regierung: Es konnte Ihnen, noch bevor Sie wussten, wohin Sie wollten, gar nicht schnell genug gehen, das Beitragslimit für die Arbeitgeberseite hier im Hause durchzusetzen. Die Folge davon haben doch alle vor Augen. Sie wissen doch, was Sie tun. Alle Lasten, alle künftigen Kostensteigerungen, sei es bei den Arzneimitteln, sei es aufgrund einer besseren medizinischen Versorgung, all die steigenden Kosten lasten Sie einseitig nur noch den Versicherten auf. Dazu kommen Zusatzbeiträge. Dazu kommt das neu eingeführte Prinzip, in Vorkasse treten zu können. Wir werden dann, wenn Sie Ihre angebliche Arbeit erledigt haben, nicht mehr über dasselbe Gesundheitswesen reden. Was Sie machen, ist die Aufkündigung des Solidarprinzips; das schafft Patienten erster, zweiter und neuerdings sogar dritter Klasse. Sie schwadronieren von Fairness. Ich sage Ihnen, das ist verantwortungslos, was Sie da auf den Weg bringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nach dem Parteitag der CDU konnte man sehen, dass sich viele Kommentatoren mit der Frage beschäftigten: Warum kettet sich eigentlich die CDU, warum kettet sich die Parteivorsitzende der CDU auf diesem Parteitag eigentlich an die FDP als Partner? Ich habe die kritische Frage gar nicht verstanden. Für mich ist das völlig klar: Für diese Politik   ich habe die Folgen eben beschrieben   gibt es keinen anderen Partner hier im Hause als die FDP. Deshalb ist das doch alternativlos, wie sich zeigt.

(Beifall bei der SPD  Volker Kauder (CDU/CSU): Deshalb seid ihr ja so schwach mit 20 Prozent!)

Ich finde, angesichts dessen, was wir gerade exemplarisch im Bereich der Gesundheitspolitik erleben   die Folgen davon werden Sie in den nächsten Jahren noch spüren  , sollten wir etwas nüchterner über bürgerliche Tugenden reden. Wir sollten auch etwas nüchterner hinschauen, wenn Sie über Gemeinsinn reden, aber in Wahrheit das Gegenteil tun.

Was nützt es dem Gemeinwohl   ich frage Sie noch einmal allen Ernstes  , wenn wir nicht vorhandenen Verteilungsspielraum nutzen, nein, ausbeuten, um ein paar Hotelbesitzern ein paar Millionen Euro zuzuwenden?

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Was nützt es dem Gemeinwohl, wenn Sie vier Energieversorgern die Laufzeiten für deren Atomkraftwerke verlängern?

(Petra Merkel (Berlin) (SPD): Richtig!)

Wie fördert es den Gemeinsinn, wenn Sie den Mindestlohn flächendeckend verweigern und denjenigen Menschen, die 4 Euro verdienen, sagen: Das ist zwar bedauerlich, aber holt euch den Rest vom Amt und tretet da als Bittsteller auf?

Wie stärkt es den Gemeinsinn, wenn Sie den Langzeitarbeitslosen den Rentenversicherungsbeitrag streichen?

Ich kann doch diese Liste mühelos fortsetzen. Schon nach einem Jahr wird so deutlich: Das ist keine Politik für mehr Gemeinsinn, sondern in allen Politikfeldern gibt es politische Vorschläge und am Ende auch Gesetze, mit denen Sie die Spaltung dieser Gesellschaft vertiefen. Die Folgen davon können Sie beobachten.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich rede nicht von Stuttgart, und ich rede auch nicht nur von Gorleben. Aber zumindest da kann man beobachten, dass die Menschen inzwischen ganz offenbar Schwierigkeiten haben, parlamentarische Beschlüsse und demokratische Verfahren zu akzeptieren.

Bezogen auf die Laufzeitverlängerung sage ich Ihnen: Sie wird kein einziges Problem der Energieversorgung der Zukunft lösen. Was Sie auslösen   da bin ich mir völlig sicher, ist Planungsunsicherheit in den nächsten Jahren in der gesamten Energiewirtschaft. Sie verursachen Investitionsruinen bei den kleineren Energieversorgern, insbesondere bei den Stadtwerken. Frau Merkel, Sie wissen schon jetzt: Sie werden selbst bei den unionsgeführten Ländern, spätestens aber beim Bundesverfassungsgericht mit diesem Gesetzesvorhaben scheitern. All das ist schon jetzt absehbar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das sind aber nur die Konsequenzen im Bereich der Energiepolitik.

Wenn wir über Demokratie und unser Gemeinwesen reden, kommt es auch darauf an, welche Folgen dies abseits der Energiepolitik haben wird. Ich sage Ihnen: Sie von den Regierungsfraktionen begreifen einfach nicht, dass der Atomkonsens von 2000 die neue Energiepolitik   Sie alle setzen sich drauf und tun so, als hätten Sie sie erfunden   überhaupt erst möglich gemacht hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie reißen alte gesellschaftliche Großkonflikte, die dieses Land in den 80er- und 90er-Jahren fast zerrissen haben, ohne Not wieder auf.

Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Sie müssen begreifen: Die Menschen wollen eine Energieversorgung ohne Atommüll; sie wollen jedoch nicht den Rückmarsch in die 90er- oder 80er-Jahre. Da bin ich völlig sicher.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE))

Zum Schluss ein Wort zu Europa. Ich glaube, die Lage ist ernst, und zwar nicht allein wegen Griechenland und Irland. Ich schaue mit einiger Sorge auf das große europäische Einigungswerk. Es liegt im Moment in Apathie. Die europäischen Führungsmächte sind aus meiner Sicht nicht an Bord. Wo sie an Bord sind - in Klammern: Deauville -, da haben die anderen nicht den Eindruck, als ginge es um Europa.

Um da nicht missverstanden zu werden: Es ist völlig klar, dass eine deutsche Bundeskanzlerin, eine deutsche Regierung deutsche Interessen hat, die sie in Brüssel vertreten darf und muss; das war immer so. Der Unterschied ist nur: Wir werden zurzeit offenbar nicht verstanden. Das kann doch nicht nur an den anderen liegen; dafür spricht wenig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das hängt offenbar damit zusammen, dass wir es mit den taktischen Spielchen ein wenig übertrieben haben   ich habe das schon einmal am Beispiel der Finanzmarktsteuer durchbuchstabiert  : Wir tun so, als würden wir wollen, aber hintenherum sagen wir, dass es eigentlich gar nicht unsere Absicht ist. Die anderen Länder merken, wenn eine Regierung Nutzen daraus zieht, dass der Boulevard gegen die südeuropäischen Partner vom Leder zieht. Die kleinen Länder werden vor den Kopf gestoßen, wenn man nicht auf Augenhöhe mit ihnen spricht.

Mir macht es Sorgen, wenn ich sehe, wie viel Empörung und Abneigung uns mittlerweile von vielen europäischen Partnern entgegenschlägt.

(Norbert Barthle (CDU/CSU): Das waren Sie!)

Frau Merkel, das müssen auch Ihre Sorgen sein. Seien Sie einen Augenblick ernsthaft. Sie wissen genau, dass sich da etwas im europäischen Rahmen verändert. Es muss auch Ihre Sorge sein, wenn uns der Verdacht entgegenschlägt, wir hätten unser Interesse an Europa verloren oder hätten gar   das wäre vielleicht noch schlimmer   aus einem ökonomischen Kalkül heraus ein Interesse an einer Renationalisierung. Ich behaupte nicht, dass das stimmt. Ich behaupte, dass wir auf der europäischen Ebene von vielen unserer Partner nicht verstanden werden. Wenn das so ist, dann liegt auch das in der Verantwortung dieser Regierung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Erfahrung ist jedenfalls: Man kann in Europa Mehrheiten erzwingen und dabei gleichzeitig doch scheitern, wenn man nämlich auf dem Weg zu einer Entscheidung allzu viele Verletzte hinterlässt, wenn man zulässt, dass die heimischen Medien Ressentiments gegen einige Partner schüren,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das gab es bei Schröder nicht?)

vor allen Dingen, wenn man mit den Partnern zu sehr von oben herab spricht.

Damit Sie es nicht missverstehen: Das sind nicht meine Worte. Das eher regierungsfreundliche Handelsblatt schreibt:

(Otto Fricke (FDP): Das Handelsblatt ist regierungsfreundlich?)

Merkels Politik … führt zu Unsicherheit und Unfrieden. Angela Merkel ist stark gegen die Schwachen. Der Weg, den sie einschlägt, führt nicht nach Europa.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich werden Sie sagen das verstehe ich ja: Das ist das Handelsblatt; das ist starker Tobak. - Nur, ignorieren dürfen wir und erst recht Sie das nicht.

Die Wege aus der europäischen Krise   das ist meine Überzeugung   führen nicht über vordergründige Schuldzuweisungen und nicht über Paternalismus. Sie können nur über eine neue europäische Politik führen. Wann, wenn nicht in Zeiten der Krise, ist der richtige Zeitpunkt, um daran zu arbeiten, was eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik sein könnte?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wann, wenn nicht jetzt, ist der richtige Zeitpunkt für einen ernsthaften Versuch einer Annäherung der Steuerpolitiken? Dabei geht es nicht um die Stellen nach dem Komma, natürlich nicht, aber über die Arten der Besteuerung, die Korridore für das Maß der Besteuerung muss man doch jetzt reden. Ich bin sicher, auch Partner wie die Iren sehen das heute anders als vor zwei Jahren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zu all dem höre ich nichts. Stattdessen höre ich Belehrungen. Das bringt Europa nicht neu zusammen. Ich weiß selbst: Europa und die europäische Integration sind keine Selbstläufer, auch in der Vergangenheit nicht. Es hat sich aber etwas verändert   deshalb müssen wir genauer hinschauen  : Die Fliehkräfte in Europa haben ganz ohne Zweifel zugenommen. Dass nationalpopulistische Strömungen in Europa stärker geworden sind, auch das wird in diesem Hause keiner bestreiten. Ich unterstelle, dass es keiner gut findet, dass sie in einigen europäischen Ländern die Regierungspolitik schon mitbestimmen. Ich sage nur: Wenn wir nichts dagegen tun, werden solche nationalpopulistischen Strömungen nicht auf Dauer an uns vorbeiziehen. Es ist Ihre Verantwortung, auch die Verantwortung der Bundesregierung   dabei können Sie mit unserer Unterstützung rechnen  , gerade jetzt der europäischen Idee eine neue Kraft zu geben. Ich weiß, dass das nicht im Trend liegt, aber es drängt, wenn wir nicht alle Schaden nehmen wollen. Nehmen Sie diese Verantwortung an!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, Sie haben sich entschieden, nach mir zu reden.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP  Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Wie soll es denn sonst gehen?)

Ich ahne, was Sie sagen werden: Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat tüchtig geschimpft, aber er hat nicht gesagt, was die SPD anders machen würde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP   Jörg van Essen (FDP): Genau so ist es!)

Um es ganz klar zu sagen   Sie dürfen jetzt bei jedem Satz klatschen  : Mit uns gäbe es diese Gesundheitsreform nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben Ihnen gezeigt, wie man eine Gesundheitsreform machen und dabei das Solidarprinzip erhalten kann. Wir haben Ihnen gezeigt   das ärgert Sie doch  , wie man eine Gemeindefinanzreform machen kann, ohne den Gemeinden das Geld wegzunehmen.

(Beifall bei der SPD Lachen bei der CDU/CSU und der FDP  Volker Kauder (CDU/CSU): Oje! Vor allem in Nordrhein-Westfalen!)

Noch mehr ärgert Sie, dass wir die Blockaden, die Sie in den 90er-Jahren im Bereich der Energiepolitik geschaffen haben, aufgelöst und eine neue Energiepolitik in diesem Land überhaupt erst möglich gemacht haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, Volker Kauder (CDU/CSU): Wo denn? Träumer!)

Was ich Ihnen auch sagen kann: Mit uns, mit der SPD, gäbe es das Programm „Soziale Stadt“ nicht nur als Überschrift und Symbolik in diesem Haushalt, sondern es wäre mit Substanz erfüllt, weil es nicht reicht, Beton zu finanzieren, wenn man es mit der Integration ernst meint.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Entscheidend aber ist: Bei uns gäbe es die fixe Idee von Steuersenkungen als Selbstzweck nicht. Politik heißt Entscheiden, und entscheiden muss man über Prioritäten. Ich prophezeie Ihnen: Bildung und Integration, das sind die beiden Themen, die darüber entscheiden werden, ob uns das nächste Jahrzehnt gelingt. Das muss finanziert werden, aber Sie tun das nicht. Sie erfüllen Ihre eigenen Versprechungen nicht.

(Beifall bei der SPD Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ein wirklicher Unfug!)

Regieren ist mehr, als eine Koalition zu führen. Der Haushalt, den Sie hier vorstellen, mag zum vorläufigen Überleben des schwarz-gelben Bündnisses beitragen; aber er ist ohne jede eigene Idee von Zukunft. Das steht für Weiterwursteln in guten Zeiten; aber für schwere Zeiten taugt das nicht, was Sie hier vorstellen.

Die jetzige Situation - ich freue mich darüber, dass wir besser durch die Krise gekommen sind als andere - schafft riesige Chancen; aber jede dieser Chancen haben Sie im ersten Jahr Ihrer gemeinsamen Regierung verstolpert. Dieser Haushalt spricht dafür, dass sich das nicht ändert. Es bleibt dabei: Dieses Land wird weit unter seinen Möglichkeiten regiert. Das liegt in Ihrer Verantwortung, und an den Quittungen wird schon geschrieben.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)