BILD: Was wissen Sie als früherer Kanzleramtschef von US-Spähaktionen in Deutschland?
Frank-Walter Steinmeier: "Die fraglichen Programme, Prism und Tempora, gab es damals nicht. Sie basieren auf einem technologischen Quantensprung, verfolgen das Ziel einer Totalüberwachung des gesamten Internetverkehrs. Selbstverständlich müssen alle Staaten um den Schutz ihrer Bürger besorgt sein, zumal die USA nach dem 11. September. Aber eine flächendeckende Abhörpraxis ist ein anderes Kaliber. Hier werden Freiheitsrechte offenbar vollständig ausgehebelt."
BILD: War unter Experten nicht klar, dass die USA Daten in großem Stil abschöpfen?
Steinmeier: "Hier geht es um die Dimensionen. Das Absaugen und Speichern vollständiger Datenströme sprengt alle Grenzen. Es muss gestoppt werden. Sechs Wochen nach Snowdens Enthüllungen hat Merkel aber nicht mal für Aufklärung gesorgt, was die Regierung wusste. Der Innenminister in den USA, Auftritte von Friedrich im Parlamentarischen Kontrollgremium und vor dem Innenausschuss, aber wir sind keinen Deut schlauer geworden. Die Meldung, dass die Bundeswehr Prism nicht nur kannte, sondern selbst einsetzte, macht jetzt die Verwirrung komplett. Was weiß die Regierung? Läuft das Programm noch? Was tut Merkel, um deutsche Interessen zu wahren? Darauf müssen jetzt Antworten her."
BILD: Im Krisenstab des Auswärtigen Amts wurden von der NSA abgefangene Verbindungsdaten verwendet, wenn Deutsche entführt wurden. War Ihnen das als Minister bewusst?
Steinmeier: "Die Menschen erwarten zu Recht, dass die Regierung alles tut, um die Entführten zu befreien und zu ihren Angehörigen nach Hause zu bringen. Der Krisenstab des Auswärtigen Amtes arbeitet in solchen Fällen eng und gut mit Vertretern des Bundeskriminalamtes und des Bundesnachrichtendienstes zusammen, hat aber weder die Möglichkeiten noch die Aufgabe, deren Quellen zu überprüfen."
BILD: Wurden US-Dienste um Hilfe und Daten gebeten, z. B. bei den Fällen Chrobog und Blechschmidt?
Steinmeier: "Entführungsfälle sind die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Viele Fälle der letzten 15 Jahre wären nicht zu lösen gewesen ohne Informationen von befreundeten Diensten, die besondere Kenntnisse in Krisenregionen haben. Darunter können auch Informationen amerikanischer Dienste sein. Das wird hoffentlich auch in Zukunft so sein. Das alles hat aber nichts zu tun mit der aktuellen Debatte über eine flächendeckende Abschöpfung privater Daten aus befreundeten Staaten."
Wissen Sie von Anschlägen, die durch Hinweise der NSA und abgefangene Kommunikation in Deutschland verhindert wurden?
Seit acht Jahren trägt Merkels Kanzleramt dafür Verantwortung. Das müssen die heute Verantwortlichen beantworten.
In ihrer Partei machen sich jetzt alle über Innenminister Friedrich lustig wegen dessen ergebnisloser USA-Reise. Was hätte denn ein SPD-Kanzler gemacht – die Kavallerie geschickt?
Es reicht jedenfalls nicht, sich in Washington nur lieb Kind machen zu wollen. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe verlangt eine selbstbewusste deutsche Politik, die sich ein eigenes Urteil zutraut und das massenhafte Ausspähen unbescholtener Bürgerinnen und Bürger nicht einfach hinnimmt. Ein Kanzler Peer Steinbrück hat das notwendige Rückgrat. Und er ist dabei transatlantisch fest verankert.
BILD: Was würde sich an der Zusammenarbeit der Geheimdienste mit einem SPD-Kanzler ändern?
Steinmeier: "Die atlantische Partnerschaft ist ein Grundpfeiler unserer Sicherheit. Sie fußt auf gemeinsamen Werten der Freiheit und der Demokratie. Gerade um dieser Werte willen müssen wir jetzt Klarheit schaffen. Gemeinsamer Kampf gegen den Terror ja. Aber ein klares Nein zu systematischen Verletzungen von Bürgerrechten. Die Informationsfreiheit ist die Bürgerrechtsfrage des 21. Jahrhunderts."