Die Enthüllungen Snowdens haben schier Unglaubliches zutage gefördert. Wie groß war Ihre Überraschung, Herr Steinmeier?
Mich überrascht vor allem der Umfang der Abhöraktion. Niemand bestreitet das Recht und die Pflicht eines Staates, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Das gilt auch für die USA, die nach den Anschlägen vom 11. September besonderen Anlass dazu hatten. Aber allein das Ausmaß, wie es jetzt nach den Veröffentlichungen des Whistleblowers Snowden bekannt geworden ist, legt den dringenden Verdacht nahe, dass die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit völlig aus den Fugen geraten ist.
Nicht hinnehmbar ist, dass es ein gezieltes Abhören ausländischer, auch europäischer Botschaften gegeben hat, einschließlich der offiziellen Einrichtungen der Europäischen Union in den USA. So etwas darf keinen Platz mehr haben im 21. Jahrhundert, erst recht nicht unter Verbündeten und engen Partnern. Das Vertrauen ist jetzt in Mitleidenschaft gezogen worden .
Sie waren unter Kanzler Schröder selbst bis 2005 als Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung tätig. Hätten Sie mit einem derartigen Umfang gerechnet?
Nein. Damals waren die technischen Bedingungen auch noch völlig andere.
In wie weit kann Präsident Obama die Wogen wieder glätten?
Transparenz ist ein Instrument, mit dem man versuchen kann, das beschädigte Vertrauen wiederherzustellen. Ich glaube, wir brauchen eine wirklich offene Debatte. Deshalb ist das, was Innenminister Friedrich gesagt hat, – die Kritik an den Amerikanern sei eine neue Form von Antiamerikanismus – wirklich unsinnig. Es muss jetzt zwei Signale geben: Die Verletzung der vertraulichen Sphäre muss erstens sofort beendet werden. Dazu gehört auch eine regierungsoffizielle Äußerung von amerikanischer Seite, dass dies nicht mehr passiert. Und zweitens muss es die Bereitschaft geben, Transparenz herzustellen: In welchem Umfang sind Daten erhoben worden? Und zu welchem Zweck? Was ich mir drittens wünsche, ist, dass die Amerikaner mit uns in eine Debatte eintreten darüber, was aus Gründen der Sicherheit dringend erforderlich ist. Die Tätigkeit von Diensten und Sicherheitsbehörden ist leider nicht überflüssig geworden. Wir müssen realistisch sein und sehen, dass sich neue Formen der Bedrohung entwickelt haben. Deshalb brauchen wir eine Debatte, wo die Grenze liegt zwischen der unverzichtbaren Vorsorge für die Sicherheit und der Gewährleistung von Freiheit.
Ein anderes Thema: Wie hält es die SPD angesichts der aktuellen Umfrage mit einer möglichen Neuauflage der Koalition mit der Union?
Die Große Koalition liegt hinter uns und nicht vor uns. Wir tun alles dafür, dass wir Regierungsverantwortung gemeinsam mit den Grünen tragen werden.
Warum sinken die Umfragewerte der SPD aber nach wie vor?
Ich gebe zu, die Umfragen haben noch Luft nach oben. Aber der Wahlkampf beginnt gerade erst. Die Leute werden Peer Steinbrück bis zur Wahl jeden Tag mehr zu schätzen wissen, weil er nicht rumschwadroniert wie die Bundeskanzlerin, sonder klar sagt, was er tun wird. Und umgekehrt spielt Frau Merkel ein Vabanque-Spiel. Sie versucht der Auseinandersetzung auszuweichen, indem die Regierung keine Entscheidungen trifft. Und gleichzeitig tut sie so, als wolle sie unter taktischen Gesichtspunkten nach und nach SPD-Positionen übernehmen. Das sind aber nur leere Versprechungen. Eingelöst hat sie davon in den letzten vier Jahren nichts.
Dabei scheint sie allerdings erfolgreich zu sein.
Das bleibt aber nicht so. Ich habe den Eindruck, dass die Öffentlichkeit samt der Medien nach Veröffentlichung des sogenannten Wahlprogramms der CDU ein bisschen ungehalten reagiert hat. Ein Füllhorn in einem Volumen von 46 Milliarden Euro auszuschütten, ohne einen Cent Gegenfinanzierung und dazu noch behaupten, man verstehe etwas von Steuern und Finanzen, das war schon ausgesprochen abenteuerlich. Bei unserem Programm bin ich überzeugt, dass es richtig war, den Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit zu legen. Es ist auffällig, dass sich jetzt in der Schlussphase des Wahlkampfes Union und FDP anheischig machen, Rosinen aus diesem sozialdemokratischen Angebot herauszupicken – von der Mietpreisbremse bis zum Mindestlohn. Das spricht für ein Gespür bei den anderen Parteien, dass die Sozialdemokraten nicht so falsch liegen.
Die Ausgaben von 46 Milliarden können Sie als Finanzminister der nächsten Bundesregierung ja dann zurecht rücken ...
Dass darüber spekuliert wird, wer was wann wird, verstehe ich. Aber ich bin jetzt zu lange in diesem Geschäft, um an den Funktions- und Positions-Verteilungen vor der Wahl teilzunehmen. Wir sollten abwarten, wie sich die Wähler entscheiden und was sich für Schlussfolgerungen daraus ergeben.
In Ostdeutschland beschäftigt die Rentenangleichung weiterhin die Menschen. Wie könnte dieses Problem gelöst werden?
Die beiden gegenwärtigen Koalitionsparteien haben schlicht ihr Versprechen gebrochen. Die Ankündigung, das in dieser Legislaturperiode lösen zu wollen, wurde nicht eingehalten. Wir werden für eine Angleichung sorgen. Aber vor allem braucht man das Verständnis, dass es allein mit der Angleichung von Rechenwerten nicht getan ist. Die Menschen werden nur etwas davon haben, wenn wir in den nächsten Jahren auch eine Angleichung der Löhne und Gehälter erleben. Ich bin da optimistischer als in den Jahren zuvor. Die Gewerkschaften werden ihren Beitrag leisten, aber das wird nicht ausreichen. Deshalb müssen wir in der nächsten Legislaturperiode einen flächendeckenden Mindestlohn hinbekommen.