In diesen Tagen ist in Europa viel von Solidarität die Rede. Zu Recht heißt es, dass Solidarität keine Einbahnstraße sei, sondern immer ein Geben und Nehmen. Die Kontroverse über die Grenzen unserer Solidarität mit Griechenland macht deutlich: Ohne Vertrauen ist Solidarität nicht mehr als eine hohle Phrase. Genauso, wie wir das Vertrauen zueinander brauchen, dass Verabredungen und Verträge gelten, brauchen wir auch die Gewissheit, dass wir in der Not einander beistehen. Ohne dieses Vertrauen funktioniert Europa nicht.

Angesichts glänzender Wirtschaftsdaten in Deutschland ist mancher versucht, selbstbewusst einen Preis einzufordern, wenn man sich denn aus eigener Wahrnehmung großzügig gegenüber Staaten in der Krise zeigt. Dabei scheinen die Verfechter einer harten Linie gegenüber Griechenland vergessen zu haben: Auch wir Deutsche durften in der Vergangenheit viel Solidarität, Geduld und Vertrauen erfahren. Nur wenige Jahre nach Krieg, Faschismus und Holocaust wurde unser Land eingeladen, in die Mitte der europäischen Gemeinschaft zurückzukehren.

Und als Deutschland vor zehn Jahren mit mehr als fünf Millionen Arbeitslosen und mauen Wirtschaftsdaten zu kämpfen hatte, drängten wir auf mehr Flexibilität bei der Auslegung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Nicht nur Verständnis für unsere damals schwierige soziale und wirtschaftliche Lage in der EU aufzubringen, sondern uns sogar neue Regeln zuzugestehen – das fiel damals einer Reihe von Mitgliedstaaten nicht leicht. Aber sie haben es getan. Das verschaffte uns die notwendigen Spielräume, um den Arbeitsmarkt zu reformieren und in Bildung und Infrastruktur zu investieren. Wir haben das Vertrauen unserer Partner damals nicht enttäuscht.

Doch Solidarität ist weniger ein wirtschaftliches Leitprinzip. Die EU ist mehr als nur ein gemeinsamer Markt. Sie ist eine emanzipatorische Kraft, schließlich ist der europäische Traum eben auch der Traum vom selbstbestimmten Leben in Freiheit und Würde. Europäische Solidarität beruht auf gemeinsamen Werten, die uns zusammenschweißen. Sie folgt aus unserer gemeinsamen wechselhaften Geschichte. Und sie setzt die Bereitschaft voraus, die Zukunft miteinander gestalten zu wollen.

Unsere polnischen und baltischen Freunde sehen derzeit ihre Sicherheit durch den großen Nachbarn im Osten gefährdet. Russland bricht das Völkerrecht und unterstützt Separatisten, die die Ukraine gewaltsam spalten wollen. Diese Länder, die ihre ganz eigenen tragischen Erfahrungen mit russischer Fremdherrschaft gemacht haben, bitten um Beistand. Im Rahmen der NATO und durch unser unermüdliches Ringen um eine politische Lösung des Konflikts in der Ukraine zeigen wir uns solidarisch.

Andere Länder wiederum sind hochgradig abhängig von russischen Öl- und Gaslieferungen. Dass Präsident Putin den Gashahn zudrehen könnte, ist inzwischen kein absurdes theoretisches Konstrukt mehr. Auch Energiepolitik ist Außen- und Sicherheitspolitik. Derzeit verhandeln wir mit unseren Partnern über die Diversifizierung der Energieversorgung und den Ausbau von Leitungsnetzen. Auch das ist gelebte Solidarität.

Im Süden Europas setzen die dramatisch gestiegenen Flüchtlingszahlen Länder wie Italien, Zypern, Malta oder Griechenland massiv unter Druck. Nahezu täglich spielen sich im Mittelmeer menschliche Tragödien von unvorstellbarem Ausmaß ab. Erstaufnahmestaaten wie Italien fühlen sich von der EU im Stich gelassen. Gerade einmal fünf von 28 Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, nehmen eine signifikante Zahl von Asylbewerbern und Flüchtlingen auf. Wer es mit Humanität und Solidarität ernst meint, sollte jetzt verbindliche Standards und Quoten verabreden, die sich an Größe, Wirtschaftskraft und Aufnahmekapazität der einzelnen Mitgliedstaaten orientieren. Solidarisch wäre es auch, gemeinsam und koordiniert die Lage in den Herkunfts- und Transitländern zu verbessern.

Und es geht mitnichten nur um den inneren Zusammenhalt der EU. Angesichts einer Vielzahl von furchtbaren Krisen in unserer Nachbarschaft, ist auch im Handeln nach außen Geschlossenheit gefragt. Im Umgang mit Russland gibt es in der EU ganz unterschiedliche Wahrnehmungen und Erwartungen. Dennoch ist es den Mitgliedstaaten bislang immer wieder gelungen, mit einer einmütigen, von allen getragenen Haltung aus den Brüsseler Verhandlungen herauszugehen.

Diese Geschlossenheit setzt die Bereitschaft voraus, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, einander zu vertrauen und offen für Kompromisse zu bleiben. Und sie (über-)lebt allein durch Solidarität. Solidarität ist mitnichten eine großherzige Geste vermeintlich Starker gegenüber vermeintlich Schwächeren. Ob groß oder klein, stark oder schwach, Westen oder Osten – wir brauchen einander in Europa.

Solidarität ist das wichtigste Bindemittel in einer bunten und vielfältigen Union. Sie sichert unser Überleben. Denn ohne die Bereitschaft, verlässlich füreinander einzustehen, gelingt in Europa fast nichts.

 

Michael Roth, MdB

 

Erstmalig erschienen als Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau (14.03.2015).