Mit aktuell 736 Abgeordneten ist unser Parlament nicht nur viel zu teuer, sondern auch in der Arbeitsfähigkeit seiner Gremien beeinträchtigt. Ursächlich für das stetige Anwachsen der Sitze ist die steigende Zahl von Überhangmandaten, die zur Wiederherstellung des Zweitstimmenproporzes wiederum Ausgleichsmandate erforderlich machen. Die Entstehung von Überhangmandaten wird aufgrund der aktuellen Entwicklung der Parteienlandschaft jedoch immer wahrscheinlicher.

Die Ampel hat daher im Koalitionsvertrag vereinbart, das Wahlrecht innerhalb des ersten Jahres zu überarbeiten und den Bundestag in Richtung gesetzliche Regelgröße von 598 Sitzen zu verkleinern. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Wahlrechtskommission ist inzwischen vom Parlament eingesetzt worden und hat im April ihre Arbeit aufgenommen.

Nachdem in der vergangenen Wahlperiode mehrere Reformversuche gescheitert sind, haben sich die Obleute von SPD, den Grünen und der FDP in der Kommission und in enger Absprache mit den zuständigen Fraktionsgremien auf das Modell der verbundenen Mehrheitsregel verständigt, mit dessen Hilfe die gesetzliche Regelgröße eingehalten werden kann. Kurz bevor sich die Wahlrechtskommission am Donnerstag erstmals mit der Verkleinerung des Bundestags befasst hat, liegt damit ein konkreter Vorschlag vor.

Die Sitzverteilung nach diesem Modell würde so erfolgen:

Auf Bundesebene werden 598 Sitze im Verhältnis der von den Parteien bundesweit erzielten Listenstimmen (früher: Zweitstimmen) auf diese verteilt (Oberverteilung).

Die so ermittelte Sitzzahl einer Partei wird im Verhältnis der von ihr in den Ländern erzielten Listenstimme auf die Länder verteilt (Unterverteilung).

Ein Wahlkreismandat wird der/dem Kandidierenden mit den meisten Personenstimmen (früher: Erststimmen) nur dann zugeteilt, wenn das Mandat durch Listenstimmen gedeckt ist.

Beispiel: Stehen einer Partei in einem Bundesland nach der Unterverteilung fünf Sitze zu, haben die Kandidierenden dieser Partei jedoch in sechs Wahlkreisen die meisten Personenstimmen erhalten, erfüllt der/die Kandidierende mit den prozentual wenigsten Personenstimmen die Voraussetzungen nicht. Das Wahlkreismandat wird nicht zugeteilt (Überhangfall).

Die Wähler:innen haben die Möglichkeit, bei der Personenwahl eine Ersatzstimme abzugeben. Falls das Wahlkreismandat mangels Zweitstimmendeckung nicht an den oder die Erstplatzierte/n zugeteilt werden kann, werden die Ersatzstimmen der Wähler:innen, deren Erstpräferenz wegen mangelnder Zweitstimmendeckung nicht berücksichtigt werden konnte, zu den Erstpräferenzen der anderen Wähler hinzugezählt. Das Mandat erhält der/die Kandidierende, auf den oder die insgesamt die meisten Stimmen (Erst- und Ersatzstimmen) im Wahlkreis fallen.

Die von einer Partei in einem Bundesland errungenen Wahlkreismandate werden – wie bisher – auf die Landesliste angerechnet. Nicht mit Wahlkreismandaten besetzte Sitze werden – wie bisher auch – mit Kandidaten aus der Landesliste besetzt.

Das Modell der verbundenen Mehrheitsregel hat viele Vorteile:

  • Die reguläre Größe des Bundestags von derzeit 598 Sitzen wird nicht überschritten;
  • Es können keine Überhangmandate entstehen, somit sind auch keine Ausgleichsmandate erforderlich;
  • Die Anzahl der Wahlkreise von 299 kann beibehalten werden. Die bereits beschlossene Verringerung auf 280 Wahlkreise, die einen Wahlkreisneuzuschnitt erfordern würde, kann rückgängig gemacht werden;
  • Das System der personalisierten Verhältniswahl, in dem die Personenstimme (früher: Erststimme) nur auf die personelle Besetzung des Bundestages, nicht jedoch auf den Parteienproporz Einfluss nehmen soll, wird konsequent umgesetzt;
  • Der föderale Proporz wird eingehalten. Jede Partei erhält in jedem Land so viele Sitze, wie ihr dort nach dem Zweitstimmenproporz zustehen. Keine Landesliste muss für Überhangmandate aus anderen Bundesländern „bezahlen“, um diese zu kompensieren;
  • Die Entstehung von negativem Stimmgewicht ist ausgeschlossen, daher ist kein Sitzkontingentverfahren erforderlich;
  • Jeder Wahlkreis erhält eine Wahlkreiskandidatin oder einen Wahlkreiskandidaten, es gibt keine „verwaisten“ Wahlkreise.

Die durch das Modell der verbundenen Mehrheitsregel gewährleistete Reduzierung der Sitze trifft die Parteien prozentual gleich mit Ausnahme eines kleinen Nachteils für die Union: Die der CSU nach der letzten Bundestagswahl zugekommenen drei nicht ausgeglichenen Überhangmandate fallen in Zukunft weg. Ansonsten gibt es innerhalb des Parteiensystems keine Gewinner oder Verlierer.

Das Wahlrecht ist auf einen breiten Konsens angewiesen, schreiben Sebastian Hartmann (SPD), Konstantin Kuhle (FDP) und Till Steffen (Grüne) in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Vorschlag sei "ein Gesprächsangebot an alle konstruktiven und demokratischen Fraktionen des Deutschen Bundestages."

Klar ist, wie alle Fraktionen wird auch die SPD-Fraktion weniger Mandate haben. Mit den Stimmergebnissen von 2021 hätte sie – eine Sitzzahl von 598 vorausgesetzt – 168 Sitze erhalten. Diese Reduzierung ergibt sich jedoch allein aus dem Parteienproporz.

Es wird zudem Verschiebungen innerhalb der Bundesländer geben. Da in Zukunft jedoch Verrechnungen von Überhangmandaten mit Landeslisten anderer Bundesländer entfallen, erhält jedes Land wieder so viel Sitze, wie ihm nach Zweitstimmenproporz zustehen. Bisher wurden Länder mit Überhängen besser gestellt auf Kosten von Ländern ohne Überhänge.