Deutschlands Haltung zu Flüchtlingen Grund für Klügers Kommen

Sie habe hauptsächlich die Einladung aus Berlin angenommen, weil Deutschland den Beifall der Welt gewonnen habe, „dank seiner geöffneten Grenzen und der Groβherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen.“ Sie sei eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind, machte Klüger deutlich.

Video der Rede von Prof. Dr. Ruth Klüger am 27. Januar 2016 im Bundestag

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„Der Winter von 1944/45 war der kälteste Winter meines Lebens und blieb sicher unvergesslich für alle, die ihn damals in Europa erlebten“, so begann die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger ihre ergreifende und bedrückende Ansprache vor dem deutschen Parlament. Sie war dreizehn Jahre alt, als sie, ihre Pflegeschwester Susi, ihre Mutter sowie die Millionen von Opfern der Nazi-Diktatur dieser Kälte hilflos ausgesetzt waren.

Überleben durch eine Lüge

Eigentlich sei Klüger zwei Jahre zu jung gewesen, um Zwangsarbeiterin zu werden, berichtete sie. Dennoch gelang es ihr Dank einer Schreiberin, einen in der „Selektion“ tätigen SS-Mann im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau davon zu überzeugen, dass sie hart arbeiten könne und 15 Jahre alt sei. Die körperlich harte Zwangsarbeit musste Ruth Klüger dann im Frauenlager Christianstadt, einem Auβenlager des Konzentrationslagers (KZ) Groβ-Rosen im früheren Niederschlesien und heutigen Polen, ableisten: „Die ersten Tage in Christianstadt waren für mich der Inbegriff von Erleichterung.“ Die dortige klare Luft sei „eine Wohltat nach dem kadaverartigen Dunst“ in Auschwitz gewesen und die erdrückende Todesangst sei gewichen, sagte Ruth Klüger.

Zwangsarbeiterinnen wurden übel ausgebeutet

Doch dieses Gefühl habe nicht lange angedauert. Geweckt durch eine Sirene oder Pfeife hätten sie und die anderen Zwangsarbeiterinnen morgens im Dunklen zum Appell gestanden. „Stehen, einfach stehen ist mir noch heute so widerlich, dass ich manchmal aus einer Schlange ausscheide und weggehe, wenn ich schon fast dran bin“, so Klüger. Die Arbeit sei „Männerarbeit“ gewesen, sie hätten den Wald gerodet, Stümpfe gefällter Bäume ausgegraben und weggebracht und Holz gehackt sowie Schienen getragen.

Die Mehrzahl der Frauen in Groß-Rosen, so auch ihre Mutter, hätten in einer Munitionsfabrik, zusammen mit aus Frankreich verschleppten Männern arbeiten müssen. Männer seien besser ernährt worden und für die Nazis wertvoller gewesen, erläuterte Klüger: „Dafür konnten sie auch besser Sabotage treiben“. Stillgelegte Maschinen hätten die Deutschen erst richten müssen. So sei für die Nazis weniger durch die Zwangsarbeit herausgesprungen als sie sich errechneten hätten.

Zwangsarbeit sei schlimmer als Sklavenarbeit, weil der Sklave einen Geldwert für seinen Besitzer habe, der verloren ginge, wenn er den Sklaven sterben ließe. „Die Zwangsarbeiter der Nazis waren wertlos, die Ausbeuter konnten sich immer noch neue verschaffen“, stellte Klüger klar. Sie ging auch auf die Frauen, die vor allem in Ravensbrück in Lagebordellen für gewisse KZ-Insassen als Prostituierte zur Verfügung stehen mussten. Denn diese Frauen seien nicht als Zwangsarbeiterinnen eingestuft worden und somit hätten sie auch keine Ansprüche auf die so genannte Wiedergutmachung gehabt, sagte Klüger.

 

Nachkriegsdeutschland hat Massenmord und Zwangsarbeit verdrängt

Die deutsche Zivilbevölkerung habe das Wissen über den Massenmord durch die Nazis und massenhafte Ausbeutung durch Zwangsarbeit lange geleugnet. Das Nachkriegsdeutschland habe viele Jahre einen Verdrängungsprozess verfolgt. Heute zwei bis drei Generationen später zeige sich Deutschland als ein offenes Land, dass großherzig Flüchtlinge aus Syrien und anderen Krisengebieten aufnehme, was sie bewundere, stellte Klüger dar.

 

Ihre Erinnerungen an die Zeit in den Lagern der Nationalsozialisten verarbeitete Ruth Klüger später in dem folgenden Gedicht:

Auf dunklem Abhang steht ein lichtes Haus.

Im Steinbruch frieren Kinder. Eines hascht nach einer Eidechse, die ihm entwischt.

Ein Gesichtsloser sucht sich zum Graben hinunter zu wälzen.

Das Mädchen, die tuchbedeckte Schüssel krampfhaft haltend,

läuft schluchzend ins lichte Haus.

Im Steinbruch frieren Kinder in der rostigen Luft.

Unter eisernen Bäumen bücken sich wortlose Paare und sammeln metallene Frucht.

 

Hintergrundinformationen zu Ruth Klüger

Ruth Klüger ist heute 84 Jahre alt. Sie kam als Tochter jüdischer Eltern in Wien auf die Welt. Als sie zwölf Jahre alt war, wurde sie mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Ein Jahr später wurden beide nach Auschwitz-Birkenau und dann in das Arbeitslager Christianstadt in der ostbrandenburgischen Niederlausitz (heute Polen), ein Außenlager des niederschlesischen Konzentrationslagers Groß-Rosen, verbracht. Das Lager Christianstadt wurde Anfang 1945 aufgelöst und die Häftlinge nach Bergen-Belsen überführt. Am Kriegsende nutzten Ruth Klüger, ihre Pflegeschwester Susi und ihre Mutter einen der „Todesmärsche“ für die Flucht nach Niederbayern. Ihr Vater, ein jüdischer Frauenarzt, wurde in Auschwitz ermordet.

Nach ihrem Studium war Klüger Hochschulprofessorin für deutsche Literatur an den US-amerikanischen Universitäten von Cleveland, Kansas und Virginia. Bis zu ihrer Emeritierung lehrte sie an der Princeton University und der University of California im kalifornischen Irvine. Seit 1988 lehrte sie als Lessing- und Kleistspezialistin auch an der Georg-August-Universität Göttingen. Bekanntheit erlangte sie mit ihrem Buch „Weiter leben – eine Jugend“, das 1992 erschienen ist. Neben vielen anderen Auszeichnungen wurden Ruth Klüger 2008 das Verdienstkreuz erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland 2008 und 2010 die Ehrenmedaille der Stadt Göttingen verliehen.

Hier kann die Rede von Ruth Klüger nachgelesen werden >>>