Doch die meisten von ihnen schauten weg, und wollten nicht wissen, wohin ihre Nachbarn gebracht wurden. Die Deutschen wollten sich mit dem Völkermord an den Juden nicht befassen und nach dem 08. Mai 1945 haben sie von den Nazi-Gräueltaten angeblich alle nichts gewusst. Zudem blieb die juristische Aufarbeitung sehr unbefriedigend. Der überwiegende Teil der Richter und Staatsanwälte war in verantwortlichen Positionen des Nazi-Regimes tätig. Sie hatten keinen Bedarf an Strafverfolgung, oder sie relativierten die strafrechtliche Verantwortung. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) merkte in einer Gedenkstunde am 27. Januar 2015 anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz an: „Wer sehen wollte, der konnte sehen.“ Für die schreckliche Vergangenheit Deutschlands seien die Nachgeborenen nicht verantwortlich, „für den Umgang damit schon.“

Seit nunmehr 20 Jahren gedenkt der Deutsche Bundestag dem Tag der Befreiung von Auschwitz. Die Gedenkstunde wurde in diesem Jahr musikalisch vom Spiel Ib Hausmanns, dem Komponisten und Klarinettisten, eingerahmt. Er spielte den dritten Satz „Abîme des oiseaux“ (Abgrund der Vögel) aus „Quatuor pour la fin du temps“ („Quartett für das Ende der Zeit“) des französischen Komponisten Olivier Messiaen, das zum Jahreswechsel 1940/41 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager in Görlitz uraufgeführt worden ist. 

Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz

Die Shoa (Holocaust) hat sich eingebrannt in das kollektive Bewusstsein der Menschheit. Allein im Vernichtungslager Auschwitz wurden zwischen 1940 und 1945 1,1 Millionen Menschen ermordet, eine Million waren Juden. Bundespräsident Joachim Gauck würdigte die Befreiung des KZs durch die rote Armee, bei der 231 sowjetische Soldaten ihr Leben lassen mussten. Die Erinnerung an die Shoa dürfe vor allem in Deutschland nie aufgegeben werden.

„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, stellte Gauck klar. Doch der moralische Auftrag erfülle sich nicht nur im Erinnern, daraus ergebe sich vielmehr ein Auftrag: „Schützt und bewahrt die Mitmenschlichkeit. Schützt und bewahrt die Rechte eines jeden Menschen“. Gauck machte auch deutlich, dass es vor allem darum gehe, vorzubeugen und dafür zu sorgen, dass ein solcher Massenmord und Genozid nicht mehr geschehe. Dort, wo ein Verbrechen an der Menschlichkeit begangen würde, gelte es, dies zu bekämpfen. Er frage sich jedoch: „Sind wir überhaupt imstande, derartige Verbrechen zu beenden und zu ahnden?“ Fehle nicht manchmal der Wille, sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit entgegenzustellen und sich für eine friedliche Welt einzusetzen? Doch die Androhung von Strafe, zum Beispiel durch internationale Strafgerichtshöfe, wirke, so der Bundespräsident, selten abschreckend genug, und Präventionsmaßnahmen kämen häufig zu spät.

Der Holocaust als Menschheitsverbrechen – diesen Weg der Annäherung hätten auch Eingewanderte zu gehen, selbst wenn sie sich nicht oder noch nicht als Deutsche fühlen, so Gauck: „Dieser Weg ist nicht immer leicht; er ist auch nicht selbstverständlich". Manche Einwanderer hätten in ihren Herkunftsländern selbst Verfolgung erlebt. Manche kämen aus Ländern, in denen Antisemitismus und Hass auf Israel verbreitet seien. „Wo derartige Haltungen bei Einwanderern nachwirken und die Wahrnehmung aktueller Ereignisse bestimmen, haben wir ihnen beharrlich die historische Wahrheit zu vermitteln und sie auf die Werte dieser Gesellschaft zu verpflichten", sagte der Bundespräsident. 

„Wir alle, die Deutschland ihr Zuhause nennen, wir alle tragen Verantwortung dafür, welchen Weg dieses Land gehen wird“, machte Gauck deutlich. Das gelte gerade in Zeiten, in denen sich Deutschland „erneut auf das Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen zu verständigen“ habe. 

1965 fanden 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Auschwitzprozesse in Frankfurt am Main statt. Dafür hatte der frühere hessische Generalstaatsanwalt und Sozialdemokrat Fritz Bauer gesorgt. Die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik wollte von der Vergangenheit und Schuld nichts wissen und schwieg. Es dauerte bis zum Ende der 60er-Jahre und Anfang der 70er-Jahre, bis eine Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen in Westdeutschland fußfasste. Im Jahr 1965 nahmen Israel und Deutschland wieder diplomatische Beziehungen auf. 

Daran erinnert auch die SPD-Bundestagsfraktion in diesem Jahr und schreibt erneut mit dem Otto-Wels-Preis einen Wettbewerb aus, bei dem sich Organisationen oder auch Institutionen, die sich für die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel einsetzen, bewerben können.

Aktuelle Studie zum Verhältnis der Deutschen zur Shoa und zu Israel

Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung liefert zum Teil erschreckende Zahlen. Demnach wollen 81 Prozent der deutschen Bevölkerung das Kapitel der Judenverfolgung "hinter sich lassen". Gleichzeitig meinen 38 Prozent der Deutschen, dass die Shoa für die Gegenwart Relevanz hat. Die Studie fragte auch nach dem Verhältnis zu Israel: Nur 36 Prozent der Befragten haben demzufolge eine positive Meinung von Israel, sieben Jahre zuvor waren es noch 57 Prozent. Ganz anders bewerten die Israelis die Deutschen: 68 Prozent haben einen guten Eindruck von Deutschland. Der Verfasser der Studie, Stephan Vogel, erklärt sich diese unterschiedliche Bewertung durch den seit Jahrzehnten andauernden Konflikt im Nahen Osten. Die Isralis wollten keine Opfer mehr sein, und die Deutschen lehnten Krieg als Mittel der Außenpolitik ab, schlussfolgert er.  

Linktipp

Auf einer Projekt-Website der Amadeu Antonio Stiftung gibt es die Möglichkeit, einfach und schnell auf die gängigsten antisemitischen Kommentare, zum Beispiel in sozialen Netzwerken, reagieren zu können. Dort stehen Antworten zu acht Themen zur Verfügung.

Anja Linnekugel