Verheerendes Erdbeben Japan

Auf die Naturkatastrophe droht eine Atomkatastrophe zu folgen. Mit Entsetzen blicken die Menschen auf die außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerke von Fukushima. Das Beben hat die Stromversorgung für den Kühlkreislauf unterbrochen. Die Flutwelle hat den Dieselmotor der Notstromversorgung zerstört. Versagende Kühlsysteme, Explosionen im Reaktor, Angst vor austretender Radioaktivität, Einrichtung von Sperrzonen, Anwohner in Quarantänestationen und Evakuierung von Menschen – es ist der wahr gewordene Alptraum eines atomaren Unfalls. Der japanische Premierminister warnt vor Gesundheitsschäden durch Verstrahlung. Auch in der Millionenmetropole Tokio wurde bereits erhöhte Radioaktivität gemessen. Wir haben bis heute noch kein klares Bild darüber, ob eine Kernschmelze in einem oder mehreren Reaktoren stattgefunden hat. Wir wissen nicht, wie viele Menschen gefährdet sind. Noch immer ringen Einsatzkräfte und Notfallstäbe darum, das Schlimmste zu verhüten.

Aus für die Atomkraft ist unausweichlich

Eines aber wissen wir: Der Name Fukushima, der 11. März 2011, ist eine Zäsur. Die Frage nach der Verantwortbarkeit der Kernenergie ist beantwortet. Das Aus für die Atomkraft ist unausweichlich. Dieser Gewissheit kann niemand mehr aus dem Weg gehen. Eine unbeherrschbare, letztlich unmenschliche Technologie kann keine Zukunft haben. Als vor 25 Jahren der Reaktorunfall in Tschernobyl ganze Landstriche verseuchte und Europa in Unsicherheit versetzte, sagten viele Kernkraftbefürworter noch, der GAU sei auf technische Schlamperei und menschliches Versagen in einem rückständigen Land zurückzuführen. Das könne uns in Deutschland nicht passieren. Fukushima aber zeigt, auch in einem Land der Spitzentechnik und der Spitzeningenieure ist der größte Unfall jederzeit möglich. Auch wir in Deutschland sind vor diesem Risiko nicht gefeit. Es wäre Hybris, anderes zu glauben. Ein Flugzeugabsturz, Sabotage, Terrorangriffe können auch deutsche Atomkraftwerke außer Kontrolle geraten lassen.

Die Sozialdemokratie hat daraus die politische Konsequenz des Atomausstiegs gezogen. Im Jahr 2000 haben wir gemeinsamen mit den Grünen den Ausstieg durchgesetzt. Wir haben es in einem hart verhandelten, im Ergebnis aber vernünftigen Konsens mit der Energiewirtschaft getan. Wir haben eine rechtsstaatliche Grundlage geschaffen. Wir haben eine Übergangszeit vereinbart und Planungssicherheit ermöglicht. Wir haben die Versorgung des Industriestandorts im Auge behalten. Vor allem haben wir damals eine Brücke für das neue Energiezeitalter gebaut. Der Ausstieg aus der Atomkraft war zugleich der Einstieg in Energieffizienz und Erneuerbare Energie, die heute zum Markenzeichen deutscher Ingenieursleistungen geworden sind. Ein neues, nachhaltiges Wirtschafts- und Wachstumsmodell für das 21. Jahrhundert ist möglich geworden. Ein Jahrzehnt nach dieser historischen Weichenstellung hat dann eine schwarz-gelbe Koalition unter Angela Merkel die Brücke eingerissen und zum Rückmarsch in die Abhängigkeit von der Atomkraft geblasen. Schwarz-Gelb hat mit der so genannten Laufzeitverlängerung von 2010 viel Vertrauen zerstört, Rechts- und Planungssicherheit untergraben und der Entwicklung der Erneuerbaren Energien schwer geschadet. Angela Merkel hat die Klientelinteressen und Monopolgewinne der großen AKW-Betreiber vor die Energiezukunft Deutschlands gestellt. Sie hat es mit einem verfassungswidrigen Gesetz unter Umgehung der Bundesländer und des Bundesrates getan, weil schwarz-gelbe Atompolitik keine politische Mehrheit mehr hat.

Als der Deutsche Bundestag am 28. Oktober 2010 dieses Gesetz mit den Stimmen der Abgeordneten von CDU/CSU und FDP beschloss, konnten die Redner der Koalition den Mund gar nicht voll genug nehmen. CDU-Umweltminister Röttgen griff die SPD wegen „Ihres Geschreis beim Thema Sicherheit“ an. Angelika Brunkhorst von der FDP sagte, sie „verstehe die apokalyptischen Ausführungen zur Unsicherheit der kerntechnischen Anlagen“ überhaupt nicht. Röttgen und andere Redner der Union behaupteten, sie würden die Sicherheitsanforderungen der Anlagen verbessern. Joachim Pfeiffer von der Union sagte: „Wir verbessern sogar die Sicherheitspuffer“. Eine glatte Lüge, denn das von SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel 2009 vorgelegte neue „sicherheitstechnische Regelwerk“, das zum 1. Januar 2011 gelten sollte, hat Röttgen 2010 außer Kraft gesetzt. Deshalb gelten heute 30 alte Sicherheitsstandards, die nicht dem Stand der Technik entsprechen.

Angela Merkel nannte die Laufzeitverlängerung im Herbst das weltweit beste Konzept, eine energiepolitische „Revolution“. Dieses Wort hat kaum ein paar Monate gehalten. Gestern verkündete sie nun ein „Moratorium“. Der Begriff bedeutet Aufschub oder Verzögerung. Merkel sagte, sie wolle das Gesetz zur Laufzeitverlängerung nicht anwenden, sie wolle es „aussetzen“ – „für drei Monate“. Weder sie noch Vizekanzler Westerwelle konnten gestern erklären, was das bedeutet. Wenn das Gesetz nicht mehr gilt, tritt dann die vorherige Rechtslage des Atomausstiegs wieder in Kraft? Was passiert mit den alten Meilern Biblis A und Neckerwestheim I, die nach unserem Ausstiegsbeschluss bereits hätten abgeschaltet werden müssen? Was passiert mit den Atomkraftwerken, die 2011 vom Netz gehen sollten? Gestern gab es dazu keine Auskünfte, nur Gerüchte. Die Regierung schwimmt.

Die Bundesregierung war auf eine Atomkatastrophe wie in Japan nicht gefasst. An der Sicherheitslage der deutschen Kernanlagen hat sich nichts geändert, seit Merkel die Laufzeitverlängerung feierte. Dennoch muss sie jetzt eine neue Kehrtwende vollziehen. Das zeigt: Schwarz-Gelb steht vor den Scherben einer verantwortungslosen Atompolitik. Merkel und Westerwelle agieren jetzt kopflos und orientierungslos. Ein „Aufschub“ von „drei Monaten“ ist offenkundig der Versuch, Zeit zu gewinnen und einer Misstrauenserklärung der Wähler bei den Landtagswahlen am 20. und 27. März auszuweichen. Das System Merkel – Vertagen, Vernebeln und Täuschen – schafft kein neues Vertrauen. Am Donnerstag dieser Woche wird die Kanzlerin eine Regierungserklärung zu den Folgen der japanischen Atomkatastrophe abgeben. Wir werden drei klare Forderungen zur Abstimmung stellen:

  1. Die Bundesregierung muss unverzüglich ein Gesetz vorlegen, mit dem die Laufzeitverlängerung aufgehoben und der Ausstiegsbeschluss wieder hergestellt wird. Wer sein eigenes Gesetz nicht mehr anwenden will, muss ein neues Gesetz beschließen. Alles andere ist eine Täuschung der Öffentlichkeit und ein Verstoß gegen die Verfassung.
  2. Die veralteten und unsicheren Atomkraftwerke Biblis A, Biblis B, Brunsbüttel und Neckarwestheim I sind abzuschalten. Die Anlagen Isar I, Krümmel, Philippsburg 1 und Unterweser sind stillzulegen. Atomkraftwerke, die jetzt vom Netz gehen, dürfen nicht wieder angefahren werden.
  3. Das neue und strengere kerntechnische Regelwerk des Jahres 2009 ist sofort in Kraft zu setzen. Der neueste Stand von Wissenschaft und Technik muss zur rechtlichen Voraussetzung werden, deutsche Atomkraftwerke zu betreiben. Bei den erforderlichen Sicherheitsnachrüstungen darf es keine politischen Rabatte mehr geben.