Die Ankündigung Spaniens, Hilfe aus dem Rettungsschirm zu beantragen, ist ein dramatischer Offenbarungseid. Die spanische Regierung bekennt, dass das Land aus eigener Kraft nicht mehr weiter kommt. Aber auch die schwarz-gelbe Koalition in Berlin steht da wie der Kaiser ohne Kleider. Dass Schwarz-Gelb in der Krise nackt und ratlos ist, dämmert immer mehr Menschen. Merkel hat mit ihrer Austeritätspolitik einen Popanz aufgebaut. Jetzt scheitert sie an der Realität. Die Krise ist nicht gelöst, sie verschärft sich! Und die Risiken für Deutschland sind nicht geringer geworden, sie steigen von Woche zu Woche! Merkel wollte eine „Brandmauer“ errichten, damit die Probleme Griechenlands nicht zur Ansteckung der größeren Volkswirtschaften in der Eurozone führen. Doch die Krise frisst sich von der Peripherie in das Zentrum des Währungsraums. Mit Spanien ist jetzt die viertgrößte Volkswirtschaft des Euro betroffen. Italien, das ebenso ungebremst in den Teufelskreis aus Rezession und Kapitalflucht rutscht, wäre die Drittgrößte. Das hebt die gesamte Rettungsarchitektur aus den Fugen. Denn jeder neue Hilfskandidat fällt auch als Garantiegeber für die Rettungsschirme
aus.
Die Tatsache ist: 25 % Arbeitslosigkeit in Spanien, 50 % Jugendarbeitslosigkeit, das Eingeständnis des spanischen Finanzministers, den Zugang zum Kapitalmarkt verloren zu haben. Aber sein deutscher Kollege Schäuble attestiert der konservativen spanischen Regierung, „alles richtig gemacht“ zu haben. Das grenzt schon an Realitätsverweigerung.
Bundeskanzlerin Merkel hat noch in einer Regierungserklärung im März vor dem Bundestag behauptet, alles sei auf gutem Wege. In einem Interview am 31. März sagte sie, dass Spanien schon 2013 die Neuverschuldung unter 3% des BIP bekommen und alle Verpflichtungen einhalten wird. Das war nicht nur blauäugig. Das war verantwortungslos. Denn das Unheil war abzusehen: Im 1. Quartal 2012 haben private Kapitalanleger fast 100 Milliarden Euro aus Spanien abgezogen. Unternehmen bekommen keinen Kredit mehr. Der Realwirtschaft fehlt das Geld, um wieder auf die Beine zu kommen. Dabei hat Spanien kein Staatsschuldenproblem – die Schuldenquote lag 2011 mit 68,5 % des BIP unter derjenigen Deutschlands –, sondern ein Bankenproblem. Die Erschütterungen der Finanzmarktkrise, die steigende Arbeitslosigkeit, rapide steigende Verschuldung und Solvenzprobleme der privaten Haushalte wie der Unternehmen haben dazu geführt, dass die Banken vor dem Ruin stehen. Die Schuldner können nicht mehr zahlen. Der Anteil der faulen Kredite am Gesamtkreditbestand in Spanien liegt inzwischen bei rund 8,5 %. Das ist in etwa das Niveau, bei dem Spanien in den 1990er Jahres aus dem damaligen Europäischen Währungssystem ausscheren musste, weil es ohne Abwertung nicht mehr ging. Damals entsprach der Anteil der faulen Kredite allerdings einer absoluten Summe von knapp 25 Milliarden Euro, heute sind Kredite im Wert von fast 150 Milliarden Euro in Spanien notleidend.
Spanien soll jetzt 100 Milliarden Euro Hilfskredite für seine Banken bekommen. Vor allem brauchen wir Klarheit darüber, ob diese Summe reicht. Wenn Schäuble jetzt behauptet, „100 Milliarden sind mehr als das, was am Ende benötigt wird“, so ist das – nach den Erfahrungen, die wir in den letzten zwei Jahren mit Schwarz-Gelb gemacht haben – keine Beruhigung, sondern eher ein Alarmsignal. Die Bundesregierung muss gewarnt sein, das unwürdige Spiel zu wiederholen, zuerst jede Hilfsnotwendigkeit in Abrede zu stellen, dann die erste Summe im Gestus „und kein Cent mehr“ zu präsentieren, schließlich aber Scheibchenweise den Geldbedarf von EFSF und künftig ESM heraufzuschrauben. Das ist schon im letzten Sommer passiert. Gerade damit aber zerstört Schwarz-Gelb das Vertrauen in die Politik.
Der Fall von Spanien lehrt jeden, der die Augen aufmacht, noch einmal: Die falsche Diagnose zieht die falsche Medizin nach sich. Und die falsche Medizin kann wie Gift wirken. Merkel behauptet, die Staatsverschuldung sei die Ursache der Krise. Tatsache ist aber, dass Spanien ebenso wie Irland und Italien vor der Finanzmarktkrise 2007 und 2008 historisch niedrige Staatsschuldenstände hatte. Es war die Notwendigkeit, den Finanzmarkt zu stabilisieren und private Verschuldung auszugleichen, die die Staaten belastet hat. Tatsache ist, dass jetzt Rezession und Verlust von Vertrauen zu einer sich selbst verstärkenden Kapitalflucht führen, die Spanien und auch Italien in einen Staatsfinanzierungsnotstand treibt. Darauf mit dem sturen Gebot zu reagieren, kurzfristig nichts zu tun, außer Staatsausgaben zu kürzen, destabilisiert die Krisenländer nur noch mehr und treibt am Ende auch die Risiken für Deutschland in die Höhe.
Wir brauchen einen Kurswechsel der Politik, wenn wir den Euro und die wirtschaftliche Integration Europas retten wollen. Jede rechtlich fixierte Schuldenbegrenzung wird doch zur Makulatur, wenn wir nicht die Bedingungen schaffen, damit öffentliche Haushalte sich konsolidieren können. Das ist der Grund, warum wir in den Verhandlungen zum Fiskalpakt klare Bedingungen formuliert haben: Europa braucht neues Wachstum und solide Einnahmen bei Steuern und Sozialversicherungen, um die Krise zu bestehen. Wir brauchen Investitionsimpulse, damit die Realwirtschaft wieder anspringt. Wir müssen die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. Wir müssen ehrlich sagen, dass das Geld kostet. Und wir müssen auch deshalb die Finanztransaktionssteuer einführen, die umfassend angelegt ist, den Derivatehandel einbezieht und der Trittbrettfahrerei des Finanzsektors zu Lasten der Allgemeinheit begegnet.
In den Verhandlungen mit der Bundesregierung haben wir vergangene Woche bei der Finanztransaktionssteuer einen Durchbruch erreicht. Das ist ein großer Erfolg für die SPD. Die Vertreter der Regierung haben zugestanden, dass wir den umfassend angelegten Entwurf der Europäischen Kommission zugrunde legen, und dass wir den Weg der verstärkten Zusammenarbeit von mindestens neun Staaten wählen, wo die 27 Mitgliedstaaten der EU keine Einigkeit finden. Gleichwohl haben in der Presse zitierte Äußerungen von Merkels Kanzleramtschef, die Steuer werde in dieser Legislaturperiode sowieso nicht kommen, Zweifel an der Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit der Regierung genährt. In unseren Verhandlungen über ein Paket für Wachstum und zum Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit haben die Regierungsvertreter sogar zugegeben, dass sie gar kein Verhandlungsmandat haben, um über die in der EU ohnehin laufenden Prozesse hinaus neue Initiativen zu verabreden. Schließlich gibt es auch in den Gesprächen der Länder mit dem Bundesfinanzminister keine Einigung darüber, wie den Ländern zugesichert werden kann, dass ihnen keine zusätzlichen Lasten aus der innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalpaktes entstehen. Vor diesem Hintergrund ist in dieser Woche kein Verhandlungsergebnis zu erwarten.
Das hat auch die gestrige zweite Runde bei Kanzleramtsminister Pofalla gezeigt. Zwar hat sich die Bundesregierung jetzt dazu verpflichtet, einen konkreten Zeitplan für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf dem Wege der verstärkten Zusammenarbeit von neun gleichgesinnten Euroländern vorzulegen und im Kabinett zu beschließen. Aber wir müssen über weitere Konkretisierungen sicher stellen, dass wir den Derivatehandel einbeziehen. Außerdem müssen die Verhandlungen über konkrete Wachstumsinitiativen weiter gehen. Heute Abend soll dazu die nächste Runde stattfinden. Schließlich bleibt das Treffen der Ministerpräsidenten mit Merkel am Donnerstag abzuwarten, um zu bewerten, ob die Bundesregierung den berechtigten Interessen der Länder ausreichend Rechnung trägt.
Am morgigen Mittwoch treffen sich die Partei- und Fraktionsvorsitzenden erneut mit Kanzlerin Merkel. Wir werden in dieser Runde nicht abschließen können. Ich erwarte aber, dass ein klares Verhandlungsmandat für die noch offenen Punkte erteilt wird.
Gemeinsam werden Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück und ich morgen den französischen Präsidenten Hollande in Paris treffen. Wir brauchen einen gemeinsamen Neuansatz. Vor allem geht es dabei um gemeinsamen Druck für die Einführung einer umfassenden Finanztransaktionssteuer in Europa. Wir brauchen einen klaren Zeitplan: Deutschland und Frankreich sollen eine Initiative starten und sieben weitere Euroländer dafür gewinnen. Neun EUStaaten können durch die so genannte „verstärkte Zusammenarbeit“ vorangehen. Die SPD wirkt in den Fiskalpaktverhandlungen mit der Bundesregierung auf einen solchen Regierungsbeschluss hin. Im nächsten Schritt muss der Europäische Rat Ende Juni bestätigen, was nach der Ablehnung von Großbritannien offenkundig geworden ist: das Scheitern der Steuer auf der Ebene der 27. Damit wird der Weg frei für einen Antrag von Neun auf verstärkte Zusammenarbeit. Das ist zu schaffen. Wir brauchen jetzt Dynamik.
Mit vereinten Kräften können wir einen Kurswechsel in Europa erreichen.