Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste,
ich darf Sie herzlich begrüßen zum zweiten Teil unserer Auftaktveranstaltung zu unserem Projekt Zukunft #NeueGerechtigkeit.
Heute Nachmittag haben viele von Ihnen bereits an unserem Projekt in den Zukunftsforen teilgenommen und dort Ihre Erfahrung, Ihre Perspektiven und Ihr Fachwissen eingebracht. Dafür danke ich Ihnen.
Im zweiten Teil heute Abend wollen wir vor allem über das diskutieren, was unsere Projektthemen verbindet: über die Frage, wie wir Zukunft so gestalten können, dass es auch in einer sich zum Teil rasant verändernden Gesellschaft gerecht zugeht – über neue Gerechtigkeit.
Ich freue mich, dass wir darüber im Anschluss auch mit Julia Friedrichs und Matthias Horx diskutieren können.
Bevor wir aber dazu kommen, möchte ich zunächst einen kurzen Blick zurück auf die letzten zwei Jahre werfen.
Für die SPD-Fraktion waren es zwei erfolgreiche Jahre. Auf Grundlage eines detailliert ausgehandelten Koalitionsvertrags haben wir ein Projekt nach dem anderen umgesetzt: Mindestlohn, Frauenquote, Mietpreisbremse, Doppelpass, Reform der Energiewende, BAföG-Erhöhung u.v.m.
Dass wir einen so guten Koalitionsvertrag aushandeln konnten, verdanken wir der Tatsache, dass wir zum Zeitpunkt der Verhandlungen bereits viele durchdachte Konzepte in der Schublade hatten. Denn während der vorangegangenen Legislaturperiode haben wir in einem groß angelegten Dialogprozess darüber beraten, wie wir uns „Deutschland 2020“ vorstellen. Gemeinsam haben wir einen umfangreichen Ideenkatalog für das Deutschland von morgen entworfen.
Mit diesen Ideen sind wir anschließend gut gerüstet in die Koalitionsverhandlungen mit der Union eingetreten. Viele der wichtigen Gesetzgebungsverfahren der letzten zwei Jahre gehen auf unsere Arbeit in den damaligen Projektgruppen zurück.
Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie uns in den kommenden Monaten nun in einem vergleichbaren Prozess zur Seite stehen. Denn jetzt, zur Halbzeit der Großen Koalition, wird deutlich:
Mit dem abgearbeiteten Koalitionsvertrag werden wir uns nicht begnügen können. Die Welt steht nicht still.
Deshalb entwickeln wir Ideen für die zweite Hälfte der Legislaturperiode.
Dazu haben wir unser Projekt Zukunft #NeueGerechtigkeit aus der Taufe gehoben. 6 Projektgruppen erarbeiten dazu in den nächsten Monaten neue Konzepte.
Nicht alles werden wir mit unserem Koalitionspartner umsetzen können. Und so entwerfen wir an manchen Stellen sicherlich auch schon Konzepte für die nächste Legislaturperiode. Aber die Erfahrung aus dem letzten Dialogprozess verspricht: Wer mit uns zusammenarbeitet, hat große Chancen, dass aus interessanten Ideen bald schon handfeste Politik wird. Es lohnt sich mit der SPD zu diskutieren.
Wir haben Sie eingeladen weil wir glauben, dass wir von Ihnen lernen können, von Ihnen als Experten, Wissenschaftlern, Praktikern, Engagierten.
Besonders interessiert uns auch die Einschätzung von jungen Menschen. Deshalb sind wir froh, dass ein „junger Beirat“ die Arbeit unserer Projektgruppen unterstützt.
Und damit sich eine möglichst große Anzahl von Menschen einbringen kann, führen wir projektbegleitend einen Onlinedialog.
Auf die Debatten mit Ihnen allen freue ich mich sehr.
Meine Damen und Herren,
Mit Blick auf die internationalen Krisen haben wir uns angewöhnt zu sagen: Die Welt ist aus den Fugen geraten. Der syrische Bürgerkrieg, der islamistische Terrorismus, der Ukrainekonflikt, die Griechenlandkrise und neuerdings vor allem die dramatischen Flüchtlingsbewegungen.
Aber neben diesen aktuellen Krisen gibt es auch Veränderungen in unserer Gesellschaft, die langsamer vonstattengehen, weniger dramatische Bilder produzieren und deshalb nicht tagtäglich in den Abendnachrichten vorkommen. Trotzdem handelt es sich hierbei um tiefgreifende Umwälzungsprozesse, die Deutschland nachhaltig verändern werden.
Deutschland wird kleiner und älter: Im Jahr 2060 werden in Deutschland schätzungsweise 12 Millionen Menschen weniger leben als heutzutage. Jeder Dritte wird dann älter als 65 Jahre sein.
Diesen Trend können wir mit vermehrter Zuwanderung sicherlich abfedern. Komplett umkehren werden wir ihn nicht können. Das wird Auswirkungen auf unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere Sozialsysteme haben.
Deutschland wird bunter: Mittlerweile haben über 20 Prozent unserer Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund. Gerade mit Blick auf die demografische Entwicklung ist das eine gute Nachricht. Denn unsere Mitbürger mit Migrationshintergrund sind deutlich jünger als der Bevölkerungsdurchschnitt.
Deshalb sollten wir in den Flüchtlingen, die dieser Tage in Deutschland ankommen auch immer eine Chance für eine alternde Gesellschaft sehen.
Es ist selbstverständlich, dass wir Verfolgten Zuflucht gewähren. Daneben brauchen wir aber unbedingt auch noch den Zuzug von qualifizierten jungen Arbeitskräften aus aller Welt. Für die einen wie die anderen gilt: Die meisten von ihnen werden dauerhaft in Deutschland bleiben wollen. Damit das Zusammenleben mit diesen neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gelingt, müssen wir Wege finden, sie möglichst schnell in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Deutschland wird urbaner: Dass die Anzahl der Stadtbevölkerung in Deutschland zunimmt, ist kein wirklich neuer Trend. Was uns aber wirklich zu denken geben sollte, ist die infrastrukturelle Entwicklung jener Regionen, die besonders starke Abwanderungsbewegungen zu verzeichnen haben. Hier müssen wir schauen, wie etwa der Zugang zu hochwertiger medizinischer Versorgung oder zu guter Bildung trotz schrumpfender Bevölkerungszahl gewährleistet bleiben kann.
Deutschland wird digitaler: Die digitale Revolution hat bereits jetzt unseren Alltag grundlegend verändert. Vor uns stehen aber noch viel tiefgreifendere Veränderungen. Denn die Digitalisierung macht auch vor unserer Medizin, unserem Haushalt, unseren Autos und unseren Fabriken nicht Halt. Sie wird unsere Lebensweise grundlegend verändern.
Und als Fünftes verändern sich auch die Wünsche der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land:
Die jüngere Generation bspw. hat ein ganz anderes Bedürfnis nach beruflicher Freiheit und individueller Sicherheit.
Junge Eltern haben heute ganz andere Wünsche an die Partnerschaftlichkeit in ihrer Familie und an die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als noch ihre Eltern.
Unsere Gesellschaft verlangt heute viel stärker als früher, nach gesunder Ernährung, einem gutem Wohnumfeld, einer intakten Umwelt, also nach einem guten Leben.
Meine Damen und Herren,
Das sind alles große Herausforderungen. Aber ich bin mir sicher, dass wir mit diesen Prozessen umgehen können. Denn Deutschland ist ein starkes Land.
Deutschland ist ein starkes Land, weil ein funktionierender Rechtsstaat Schutz vor staatlicher Willkür bietet und eine soziale Marktwirtschaft dem Kapitalismus wirksame Grenzen setzt.
Deutschland ist ein starkes Land, weil die überwiegende Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger große Offenheit und Hilfsbereitschaft auszeichnet. Das hat sich in der Flüchtlingskrise der letzten Wochen eindrucksvoll gezeigt.
Und Deutschland ist ein starkes Land, weil wir eine starke Wirtschaft und hervorragend ausgebildete Arbeitskräfte haben.
Das Bruttoinlandsprodukt ist in Deutschland im Jahr 2014 um 1,6 Prozent gewachsen. Wir haben einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Die Erwerbslosenquote liegt mittlerweile unter fünf Prozent. Unsere Exporte sind im letzten Jahr nochmals um 3,7 Prozent gestiegen. Damit sind wir nach China und den USA die drittgrößte Exportnation der Welt.
Durch das hohe Beschäftigungsniveau, durch gute Tarifabschlüsse und nicht zuletzt durch die Einführung des Mindestlohns haben wir außerdem einen Kaufkraftgewinn im Inland zu verzeichnen.
All diese Zahlen geben Anlass zu Optimismus und Zufriedenheit. Aber: Wir müssen aufpassen, dass aus dieser Zufriedenheit über unser Land keine Selbstzufriedenheit wird.
Denn natürlich befinden wir uns nicht aufgrund eines glücklichen Zufalls in einer solch optimalen Situation. Die kam nicht von allein, und die bleibt automatisch auch nicht so. Zu Beginn des Jahrtausends sahen die Zukunftsprognosen für Deutschland noch düster aus. Von „german desease“ war damals die Rede. Auch von „Reformstau“ und „roten Laternen“. (Der kranke Mann von Europa).
Die Wende kam erst mit den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Schröder hat damals umstrittene, aber aufgrund der ökonomischen Lage auch dringend notwendige Veränderungen durchgesetzt. Auch wenn man über manches streiten kann: Nur so haben wir den längst überfälligen Paradigmenwechsel vom staatlichen Reparaturbetrieb zum vorsorgenden, aktivierenden Sozialstaat vollzogen.
Diese Reformen, zusammen mit den traditionellen Stärken unseres Landes –Sozialpartnerschaft, hohes Bildungsniveau, duale Ausbildung, starke Forschungslandschaft – sind der Grund dafür, dass es uns derzeit so gut geht.
Diese Stärke sollten wir jetzt nutzen. Wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir es hinbekommen, dass das ältere, urbanere, buntere Deutschland nicht nur ein wirtschaftlich starkes, sondern auch ein gerechtes Land bleibt. Ein Land, in dem es sich gut leben lässt.
Eine entscheidende Antwort darauf scheint mir zu sein: Wir müssen den Menschen in diesem Land mehr Chancen eröffnen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Das beginnt bei unseren Kindern und Jugendlichen. Bei ihnen haben wir die besten Chancen, den Zusammenhang von Herkunft und Bildung endgültig zu überwinden. In den 1970er Jahren haben wir einen großen Schritt in diese Richtung unternommen. Damals haben wir mit Einführung des BAföG tausenden von Kindern aus nicht-akademischen und einkommensschwachen Haushalten den Weg an die Gymnasien und Universitäten geebnet. Viele talentierte Arbeiterkinder haben diese Aufstiegsmöglichkeiten genutzt und anschließend die erworbene Bildung auch an ihre Kinder weitergegeben.
Im Zuge dieses Prozesses ist die Quote der Abiturienten von knapp zehn Prozent zu Beginn der 1970er Jahre auf aktuell knapp 50 Prozent gestiegen. Aber mittlerweile ist der „Aufzug nach oben“ ins Stocken geraten. Zwar steigt die Quote von Abiturienten aus nichtakademischen Elternhäusern weiterhin leicht an. Aber nicht einmal ein Viertel von ihnen entscheidet sich für die Aufnahme eines Studiums. Ihre Klassenkameraden aus Akademikerfamilien beginnen zu drei Vierteln mit einem Studium.
Meine Damen und Herren,
Es darf nicht sein, dass man schon vor der Geburt eines Kindes eine ziemlich treffsichere Prognose über seine spätere Bildungskarriere stellen kann. Schon wegen des riesigen Fachkräftemangels muss unser Bildungssystem für alle Schichten durchlässig gemacht werden.
Im Übrigen halte ich eine weitere Entwicklung für fatal: Die geringe Wertschätzung für nicht-akademische Berufe. Die ganze Welt beneidet uns um unser duales Ausbildungssystem. Jeder will es importieren. Trotzdem erfahren handwerkliche (und soziale) Berufe in Deutschland mittlerweile eine geringe Wertschätzung.
Das ist eine völlig falsche Entwicklung. Ich bin für eine prinzipielle Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung. Deshalb halte ich auch den Trend, die sozialen Berufe und die Berufe in der dualen Ausbildung Schritt für Schritt akademisieren zu wollen, für einen Irrweg. Wir müssen vielmehr diese Berufe aufwerten. Und es muss auch für Nicht-Abiturienten in diesem Land Möglichkeiten für eine qualifizierte Ausbildung geben.
Meine Damen und Herren,
wir wollen auch Familien eine Chance geben. Sie müssen in der Lage sein, sich ihr Zusammenleben nach den eigenen Bedürfnissen zu organisieren. Über 50 Prozent der Familien wünschen sich eine ausgeglichenere Aufgabenteilung bei der Kindererziehung. Trotzdem reduzieren bislang nur vier Prozent der Väter nach der Geburt des Kindes ihre Arbeitszeit.
Andere Menschen müssen vielleicht auch noch die Pflege von kranken oder alten Angehörigen bewältigen. Neue Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass wir nach neuen Wegen suchen, um solchen Familien eine bessere Vereinbarkeit von familiärem und beruflichem Kontext zu ermöglichen.
Auch Einwanderern müssen wir endlich faire Chancen einräumen. Denn ich denke, dass diese Menschen mit ihrer Tatkraft, ihren Erfahrungen und ihren Talenten auch uns ganz neue Chancen eröffnen werden. Symbolisch für die Einwanderer, die wir so dringend brauchen in unserem Land, stand das Flüchtlingsmädchen Reem, dem die Bundeskanzlerin im Juli begegnet ist. Dieses Mädchen ist erst wenige Jahre in unserem Land. Trotzdem spricht es fließend Deutsch. Es bringt gute Noten von der Schule mit nach Hause. Und es träumt von einem Studium.
Meine Damen und Herren,
Auch wenn sich die Situation speziell für Reem nun zum Guten zu wenden scheint: Es kann doch nicht sein, dass wir einem jungen Mädchen, das sich so anstrengt, in dessen Bildung wir investiert haben und das diese Bildungsangebote so fleißig nutzt, keine verlässliche Zukunftsperspektive in Deutschland aufzeigen.
Ich denke: Jeder, der hier in Deutschland eine Berufsausbildung oder ein Studium abschließt, sollte automatisch eine unbefristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis bekommen. Das wäre gerecht und ökonomisch klug. Deshalb steht die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz nach wie vor ganz oben auf der Tagesordnung.
All diese Beispiele zeigen: „Neue Gerechtigkeit“ ist keine ideologische Hülse. Gerechtigkeit bringt den Menschen etwas. Eine gerechte Gesellschaft macht Menschen stark: sie gibt ihnen Chancen, statt sie in ihrer gesellschaftlichen Herkunft zu zementieren.
Meine Damen und Herren,
Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Stärke bedingen einander. Deshalb sollten wir auch Innovationen eine Chance geben.
Denn mir persönlich ist wichtig, dass wir Fortschritt und Veränderungen offen begegnen. Dass wir bewusst sagen: Wir in Deutschland wollen ganz vorne mit dabei sein, wenn neue Technologien entwickelt und neue Trends gesetzt werden. Und dafür gibt es mindestens zwei gute Gründe:
Wo neue Technologien entstehen, da entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft.
Mir ist klar, dass der Prozess der Digitalisierung bei vielen Menschen Ängste hervorruft. Denn natürlich wird sich unsere Welt, vor allem auch unsere Arbeitswelt, im Zuge der Digitalisierung nachhaltig verändern. Bestimmte Berufsbilder, die wir seit Generationen kennen, sind plötzlich überholt.
Doch das ist bei jedem technologischen Umbruch der Fall. Und aus der historischen Erfahrung wissen wir: Wenn wir diesem Prozess nur defensiv mit Abwehrkämpfen begegnen, können wir ihn womöglich verzögern. Aufhalten können wir ihn nicht.
Durch den technischen Fortschritt entstehen auch neue Arbeitsplätze und Berufe, allerdings in der Regel nicht automatisch dort, wo die alten Arbeitsplätze wegfallen.
Die neuen Jobs entstehen vor allem da, wo erstklassige Bedingungen für Forschung und Entwicklung, für Technologietransfer und Unternehmensgründungen gegeben sind. Deshalb müssen wir uns voll auf die Chancen konzentrieren.
Wo neue Technologien entstehen, da entstehen auch die Standards und Regeln der Zukunft.
Nur wenn wir vorne mit dabei sind, wenn wir Trendsetter sind, können wir Einfluss nehmen auf die Regeln und Standards. Und daran sollte uns gelegen sein. Denn natürlich wollen wir einen besseren Datenschutz als das US-amerikanische System. Wir wollen unser Verständnis von Privatsphäre nicht anpassen, sondern unsere eigenen Standards und Regeln definieren.
Doch damit uns das gelingt,
damit wir diejenigen sind, die neue Arbeitsplätze schaffen,
damit wir diejenigen sind, die die Regeln bestimmen,
müssen wir den Fortschritt als Chance wahrnehmen, nicht als Risiko. Wir müssen neue Unternehmen, die die Dinge anders machen, als Bereicherung für unser Land begreifen, statt als Gefahr für bestehende Arbeitsplätze. Wir müssen den Alltag aller Menschen durch neue Technologien verbessern. Auch das bedeutet für mich „neue Gerechtigkeit“.
Meine Damen und Herren,
Wenn wir eine gerechte Gesellschaft sein wollen, dann müssen wir Chancen eröffnen. Aber wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass Menschen, die diese Chancen ergreifen, Wertschätzung für ihre Anstrengungen erfahren.
Über alle gesellschaftlichen Milieus hinweg sagen 70 Prozent der Deutschen: Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen. Und für über 90 Prozent ist klar: Vom Lohn seiner Arbeit muss man auch leben können.
Bei vielen Menschen ist es also der Wunsch nach Anerkennung ihrer Leistung, der ihr Gerechtigkeitsempfinden prägt.
Deshalb ist es wichtig, dass es starke Gewerkschaften gibt. Denn durch gute Tarifabschlüsse erhöhen sich die Arbeitnehmereinkommen deutlich.
Deshalb haben wir aber auch den Mindestlohn eingeführt. Damit auch in den Branchen, in denen es keinen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad gibt, Arbeit ihren Wert behält.
Und wir haben die kalte Progression abgemildert. Denn es bleibt ein ungutes Gefühl, wenn bei jeder Gehaltserhöhung, die die Inflation ausgleicht, der Steuersatz gleich mit steigt.
Trotzdem entwickeln sich Einkommen und Vermögen seit langem immer stärker auseinander. Das löst bei vielen Menschen Unbehagen aus.
Ich teile diese Sorge. Denn eine Gesellschaft, in der das Vermögen immer nur weitergegeben wird, verliert an Dynamik. Jede Generation muss mindestens einen Teil des Wohlstands, den sie genießen möchte, auch selbst erarbeiten. Wenn dies nicht der Fall ist, verkrustet sie. Deshalb sind wir – genau wie das Bundesverfassungsgericht – für eine angemessene Erbschaftssteuer.
Um ein vernünftiges Verhältnis zwischen Leistung und Besitz geht es übrigens auch bei der Kapitalbesteuerung. Wenn heute Arbeit deutlich höher besteuert wird als Kapitalanlagen, dann widerspricht das auch dem Leistungsprinzip. Deshalb sollten wir darüber nachdenken, wie sich eine gerechte Kapitalertragssteuer verfassungsfest und gleichzeitig gerecht ausgestalten lässt.
Eine Gesellschaft die auf Leistung und Chancen setzt, muss aber natürlich auch Sicherheiten bieten. Klar ist: Wir brauchen einen intakten Sozialstaat und ein funktionierendes soziales Sicherungssystem. Jeden, der unverschuldet in Not gerät, müssen wir solidarisch unterstützen, damit er weiterhin zu einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in der Lage ist.
Aber damit diese Solidarität möglich ist, damit wir – wo nötig – auch nachträglich umverteilen können, brauchen wir zunächst einmal Wachstum und Wohlstand. Und den bekommen wir am besten, wenn die Menschen wissen: Meine Anstrengungen machen sich bezahlt. Wenn ich etwas leiste, dann habe ich auch etwas davon.
Meine Damen und Herren,
Die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, sind immens. Dennoch bin ich optimistisch, dass wir sie bewältigen werden.
Als rot-grün in den Jahren 2002-2005 unser Sozialsystem reformiert hat, standen wir mit 5 Millionen Arbeitslosen und einer galoppierenden Staatsverschuldung mit dem Rücken zur Wand. Dennoch haben wir es geschafft, das Land zum Besseren zu verändern.
Deshalb denke ich: Wenn es der rot-grünen Bundesregierung vor zehn Jahren gelungen ist, trotz widrigster Bedingungen Antworten auf die drängenden Fragen ihrer Zeit zu finden, dann sollte uns das heutzutage, wo sich unser Land in einer Position der Stärke befindet, erst recht gelingen. Deshalb können wir unsere Zukunft mit viel Selbstbewusstsein angehen.
Wir freuen uns, dass Sie uns bei diesem Prozess in den kommenden Monaten begleiten wollen.
Vielen Dank!