Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wer in den letzten Wochen in den jüdischen und muslimischen Gemeinden unterwegs war, der wird Verunsicherung gespürt haben. Insofern weiß jeder, dass eine gesetzliche Regelung zur Beschneidung jedenfalls zur Wiederherstellung von Rechtssicherheit zwingend erforderlich ist, eine Regelung, die unseren jüdischen und muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus meiner Sicht die Aufrechterhaltung eines Ritus erlauben sollte, der für die Ausübung ihrer Religion unverzichtbar ist. Ich finde, der Regierungsentwurf orientiert sich an diesem Ziel; das will ich ausdrücklich einräumen. Insoweit ist er gut. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren aus der Koalition, Sie hätten vielen - und ich glaube, nicht nur aus der Opposition - die Zustimmung einfacher gemacht, wenn Sie an einigen Punkten wenigstens die Bereitschaft zur Diskussion gezeigt hätten.

Wir haben einige wenige, aber sinnvolle Verbesserungsvorschläge vorgelegt. Es wäre klug gewesen, im Rechtsausschuss wenigstens eine Verständigung über eine Rechtsverordnungsermächtigung hinzubekommen, mit der später zum Beispiel Aufklärungspflichten und Qualifikationsanforderungen an die Beschneider präziser hätten geregelt werden können. Auch den Zeitraum, in dem religiöse Beschneider den Eingriff vornehmen können, hätten wir vernünftig und - da bin ich mir sicher - ohne Verletzung irgendwelcher religiöser Pflichten regeln können.

Das sind Vorschläge, meine Damen und Herren, die immerhin in Übereinstimmung mit dem Votum des Deutschen Ethikrates formuliert worden sind. Deshalb erstaunt mich schon, dass Sie in einer derart sensiblen Frage nicht mehr Wert auf eine aus meiner Sicht erreichbare gemeinsame Lösung gelegt haben.

Ganz unabhängig von dieser Kritik kann ich mir allerdings nicht vorstellen, dass wir hier in diesem Hause im Streit um die eine oder andere Ergänzung des Regierungsentwurfs am Ende zu einem Votum kommen, das den Ritus religiöser Beschneidungen gesetzlich aufhebt, strafrechtlich sanktioniert oder aber von entsprechenden Voraussetzungen abhängig macht und das faktisch Moslems und Juden ein Leben in Übereinstimmung mit ihren religiösen Grundregeln in unserem Land unmöglich macht.

Mit Blick auf die Tragweite der heutigen Entscheidung, mit Blick auf eine drohende Veränderung der Lebensumstände derjenigen, die wir eingeladen haben, mit uns zu leben und hier zu arbeiten, und erst recht derjenigen, die wir in Kenntnis ihrer religiösen Rituale aufgefordert und ermutigt haben, jüdisches Leben in Deutschland wiederzubegründen, mit Blick auf all das, meine Damen und Herren, dürfen Kritik und Verärgerung aus meiner Sicht nicht ausreichen, um in diesem Hause ein klares, breites und notwendiges Votum für den Fortbestand religiöser Beschneidung zu verhindern.
Ich unterstelle: Niemand von uns, auch ich nicht, macht sich die Entscheidung einfach; denn worüber wir entscheiden, das ist ebenso anspruchsvoll wie emotional. Die Beschneidung rührt für viele am Kern der religiösen Identität, für andere am Kern ihrer säkularen, vielleicht auch agnostischen Überzeugungen.

So haben das in den letzten Monaten auch viele erfahren. Die E-Mails, die uns zugegangen sind, sind nicht nur zahlreich; sie sind zu einem hohen Maße auch völlig unerfreulich. Da werden Befürworter einer gesetzlichen Regelung als Kinderschänder beschimpft; Gegner der Beschneidung werden dem Verdacht ausgesetzt, antisemitisch zu sein. Beide Vorwürfe sind völlig unangemessen.

So schwarz und weiß, wie uns das aus den Briefen oder E-Mails entgegenspringt, ist die Frage eben nicht. Im Grundgesetz ist das Kindeswohl zu Recht als hoher Wert definiert. Aber die ganze Wahrheit ist: Es steht eben nicht allein, sondern auf gleicher Ebene mit elterlicher Sorge, Religionsfreiheit und Freiheit der Religionsausübung. Das sind Rechtsgüter desselben verfassungsrechtlichen Ranges. Deshalb   das will ich begründen   trägt für mich folgende Argumentation nicht: Ich bin für das Kindeswohl, und deshalb bin ich automatisch gegen Beschneidung.   Kindeswohl ist auch körperliche Unversehrtheit. Es erschöpft sich aber eben nicht darin, sondern es geht auch um Werte, Sicherheit und Identität. Kindeswohl bedeutet auch Zugehörigkeit. Deshalb wehre ich mich dagegen, einen Ritus, der für einen Teil unserer Mitbürger nun einmal zum Kern ihrer Identität, zum Kern ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gehört, per se als kindeswohlfeindlich abzustempeln.

Ich finde es richtig, wenn Juden und Muslime diskutieren, ob bei der Beschneidung alles Notwendige getan wird, um Schmerzen und Beeinträchtigungen für das Kind zu vermeiden, um für sein Wohl und in seinem Sinne zu handeln. Aber aus meiner Erfahrung weiß ich: Das findet doch statt, und nicht mit weniger Sorge als in anderen Familien. Es ist doch gegen jede unserer Erfahrungen, dass das Kindeswohl in jüdischen und muslimischen Familien eine geringere Rolle spielt als in christlichen oder säkularen Familien.

Offen gesagt   das zum Schluss  : Ich fühle mich ausgesprochen unwohl mit der Vorstellung, dass ausgerechnet wir Deutsche unseren jüdischen Mitbürgern beibringen, was Inhalt von Lebensschutz und Kindeswohl ist.

Dasselbe gilt für Muslime. Ich fände es sogar unerträglich, wenn wir das erste Land in Europa wären, das nichtärztliche oder ärztliche jüdische Beschneider mit dem Staatsanwalt verfolgt und mit Strafrecht sanktioniert, und das ab morgen, nach mehreren Tausend Jahren Geschichte.

Ich vertraue auf die aktuellen und weiterführenden Diskurse in den Religionsgemeinschaften. Für mich bleibt das Prinzip der religiösen Toleranz ein Kern vom großen Erbe der europäischen Aufklärung.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)