Sie haben heute Abend bereits drei Reden gehört. Ich will Sie daher am Ende eines anstrengenden Tages nicht auch noch mit einer vierten langen Ansprache von Ihrem wohlverdienten Glas Wein abhalten. Daher möchte ich nur ein paar kurze Gedankenstriche mit Ihnen teilen.

Es gab in den letzten Wochen im politischen Berlin nur ein einziges Thema: Europa. Am Freitag haben wir nach langen Verhandlungen im Bundestag den Fiskalvertrag und den ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus, verabschiedet. Beides sind zweifellos wichtige Meilensteine auf dem Weg zur Bewältigung der Euro-Krise. Aber dass wir damit über den Berg wären, dass der größte Teil der Probleme hinter uns läge, das glauben selbst die größten Optimisten nicht. Uns steht ein harter Sommer bevor: Wir werden uns sehr bald mit Hilfen für spanische Banken, auch mit Zypern beschäftigen müssen. Und auch Griechenland klopft leider schon wieder an die Tür.

Seit Monaten betreiben wir in der Europäischen Union Nabelschau. Das ist kaum zu ändern. Aber es birgt auch Gefahren. Wir drohen den Blick für Themen zu verlieren, die für unsere Zukunft kaum weniger wichtig sind als die Stabilisierung des Euros. Anders gesagt: Auch wenn die Euro-Rettung gelingt, haben wir die Zukunft der EU noch lange nicht gewonnen.

Deshalb freue ich mich, heute hier zu sein. Veranstaltungen wie diese rufen uns gerade in Zeiten der Krise eines in Erinnerung: die Welt um uns herum dreht sich weiter und wir dürfen gerade das, was im Osten Europas passiert, nicht aus den Augen verlieren.
Der Ostausschuss und allen voran Sie, lieber Herr Cordes, erinnert uns ja zurecht immer wieder daran, was vielfach aus dem Blickfeld zu verschwinden droht: Auch wenn die westeuropäischen EU-Länder nach wie vor unsere wichtigsten Handelspartner sind, so liegt doch der größte Wachstumsmarkt für die deutsche Wirtschaft in Osteuropa. Während die deutschen Exporte im vergangenen Jahr insgesamt um 11 Prozent zunahmen, stiegen die Exporte in die Region zwischen Prag und Wladiwostok um über 18 Prozent. Insgesamt nahmen die Länder der Region im letzten Jahr deutsche Waren im Wert von 172 Milliarden Euro ab. Zum Vergleich: der Exportanteil Chinas lag bei 6 Prozent, der der USA bei 7 Prozent.

Angesichts dieser Zahlen erstaunt es umso mehr, dass eine weitere Entwicklung dieses Frühsommers vor lauter europäischer Nabelschau nahezu geräuschlos an uns vorüber gezogen ist: die Annäherung zwischen China und Russland. Vor wenigen Wochen weilte Präsident Putin für drei Tage in Peking. Wirtschaftlich gesehen überrascht es nicht, dass der größte Flächenstaat und das bevölkerungsreichste Land der Welt sich annähern – auch wenn sie dies als ungleiche Partner und aus unterschiedlichen Motiven tun. Eher überrascht es, dass die einstigen Rivalen Moskau und Peking immer mehr Gemeinsamkeiten finden – und die europäischen Medien, aber auch die politische Klasse davon nur am Rande Notiz nehmen. Einige beobachten diese Annäherung mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen, andere versuchen sich selbst mit der vermeintlichen Gewissheit zu beruhigen, dass Russland „am Ende ohne Europa doch sowieso nicht könne“.

Vor solchen selbstgerechten Einschätzungen mancher westlicher Beobachter kann ich nur warnen. Ich rate sehr dazu, die Gesprächsfäden zu unseren russischen Freunden – und auch allen anderen Partnern in der Region – nicht dünner werden oder gar abreißen zu lassen.

Es mag gefallen oder nicht, aber: Russland ist und bleibt ein zentraler Akteur in praktisch allen globalen Krisen und Konflikten. Das spüren und erleben wir in diesen Tagen immer wieder: Wir werden den Konflikt in Syrien nicht ohne russische Mithilfe eindämmen. Wir werden die Verhandlungen mit dem Iran ohne Russland nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führen. Wir werden den Einsatz in Afghanistan ohne russische Unterstützung nicht zu einem guten Ende führen können. Kurz: Ohne Russland geht wenig bis nichts in der internationalen Politik. Und deshalb brauchen wir einen kurzen Draht.
Natürlich bleibt Russland auch wirtschaftlich ein strategischer Partner erster Wahl. Ich brauche hier in diesem Raum niemandem zu erläutern, welche enormen Chancen sich hier bieten. Auf wirtschaftlicher Ebene funktioniert die Zusammenarbeit ja auch. Das wissen Sie aus eigener unmittelbarer und täglicher Erfahrung besser als ich.
Ich wünschte, das ließe sich auch über die politischen Beziehungen sagen. Da herrscht eher so etwas wie professionelle Routine. Es gibt keine lauten Misstöne, keine Zerwürfnisse. Aber wir waren einander auch schon einmal näher. Der unterkühlte Start ins gerade begonnene Deutschlandjahr in Russland hat das leider bestätigt. Wir zehren gegenwärtig noch von Investments der Vergangenheit. Aber wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht verlieren.

Ich weiß natürlich, dass die Rückkehr Wladimir Putins ins Amt des Präsidenten hierzulande und auch in Russland selbst manchen Kritiker auf den Plan gerufen hat. Die Sorge war und ist, dass notwendige Veränderungen unterbleiben, dass Stabilität in Stagnation umschlägt. Diese Sorgen kann mit Blick auf die jüngsten innenpolitischen Entscheidungen teilen. Ich sage jedoch auch: Es mag vielleicht der selbe Putin sein, der ins Amt gekommen ist. Aber es ist nicht mehr dasselbe Russland. Die Menschen sind anspruchsvoller geworden. Es gibt hohe Erwartungen. Mehr und mehr Kräfte aus der Mitte der russischen Gesellschaft drängen nach Veränderung.

Und das gilt nicht nur in technologischer oder in wirtschaftlicher Sicht. Es geht auch um eine Modernisierung der Verwaltung, um den Abbau von Bürokratie, um die Bekämpfung von Korruption, um mehr Transparenz und Investitionssicherheit für ausländische Unternehmen und nicht zuletzt auch um mehr politische Teilhabe.

Auf all das bezog sich mein Vorschlag einer Modernisierungspartnerschaft, den ich vor einigen Jahren vorgetragen habe und der nach meiner Wahrnehmung an Aktualität und Potential nichts verloren hat.

Es gibt in einer solchen Partnerschaft hohe Erwartungen an Russland. Aber liefern müssen aber auch wir, die deutsche Seite. Das Beste was man tun kann, um eine Partnerschaft mit Leben zu füllen, um professionelle Routine zu überwinden und neue Dynamik in die deutsch-russischen Beziehungen zu bekommen, sind praktische Schritte nach vorne.

Wir haben deshalb als Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag schon vor einigen Monaten eine fraktionsübergreifende Initiative gestartet, mit dem Ziel, Erleichterungen in der leidigen Visumfrage zu erreichen. Ich weiß, dass dies nicht nur für Wirtschaftsvertreter hier wie in Russland ein dauerndes Ärgernis ist. Und ich bin überzeugt, dass wir nicht warten müssen, bis die mühseligen Verhandlungen mit der EU zum Abschluss gekommen sind. Wir haben schon heute genügend Spielräume, um zu spürbaren Erleichterungen zu kommen. Das ist ein kleiner Schritt angesichts der Größe der Herausforderungen, vor denen wir insgesamt stehen. Aber es ist am Ende eben auch eine Nagelprobe für die Weiterentwicklung unserer Partnerschaft. Und deshalb werden wir an diesem Punkt auch nicht lockerlassen.

Seit ein paar Jahren halte ich als Gastdozent Vorlesungen an der Boris-Jelzin-Universität in Jekaterinburg. Die Gespräche mit den russischen Studentinnen und Studenten beindrucken mich immer wieder aufs Neue. Bei meinem letzten Besuch in Jekaterinburg haben wir vereinbart, dass deutsche und russische Studenten gemeinsam zusammentragen, wie sie sich die deutsch-russischen Beziehungen in zehn Jahren vorstellen und vor allem auch wünschen.

Ich bin jetzt schon gespannt auf dieses Papier und ich denke, dass wir alle gemeinsam – Wirtschaft – und Politik – alle Hände voll zu tun haben werden, wenn wir den hohen Erwartungen dieser jungen Menschen gerecht werden wollen.
Vielen Dank!