Dr. Karin Thissen (SPD):
Sehr verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!
Ich erspare Ihnen jetzt, zu sagen, wie betroffen mich die Bilder bei Panorama und auch die, die man im Internet sehen kann, gemacht haben; denn ich habe 22 Jahre als amtliche Tier- ärztin am Schlachthof gearbeitet, und diese Bilder waren für mich nichts Neues. Ich habe 22 Jahre erlebt, dass Tiere in diesem Zustand am Schlachthof angeliefert wurden.

(Zuruf von der CDU/CDU: Dann kann es ja nicht illegal gewesen sein!)

– Ich komme gleich darauf, ob es so ist, dass das nicht illegal gewesen sein kann. Nachdenken, bevor man etwas sagt, wäre ganz angebracht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Stellen wir uns doch einmal die Frage: Was ist denn eigentlich Tierquälerei? Wenn ich mich mit Funktionä- ren der Bauernverbände darüber unterhalte, dann sagen die gerne: Tierquälerei ist, wenn ein Landwirt seine Tiere vernachlässigt, wenn er sie verhungern lässt, sie also nicht mehr füttert, nicht mehr tränkt; dann sterben sie wirklich elendig im Stall. Das kommt vor. Das ist sehr selten, aber es kommt vor. Wir sind dagegen. Das sind halt diese berühmten schwarzen Schafe, die es immer mal gibt. – Wenn ich dann aber frage: „Einmal abgesehen davon, dass das sehr selten ist: Was ist mit allem anderen? Was sagen Sie denn zum Beispiel zu den Bildern, die wir bei Panorama gesehen haben?“, wird mir immer gesagt: Ja, das war schon immer so. Das ist auch nicht von der Betriebsgröße abhängig. Das finden Sie auch in Biobetrieben. – Das stimmt zwar alles; aber das macht es doch nicht besser.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was ist denn nun Tierquälerei? Ein Jurist wird Ihnen sagen: Tierquälerei sind diejenigen Verstöße gegen Tierschutzgesetze, die eindeutig eine Straftat sind. – Das sind die allerwenigsten Tierschutzverstöße. Die meisten sind Ordnungswidrigkeiten, so ähnlich wie Falschparken. Das ist nicht schön. Aber deswegen ist es doch trotzdem nicht legal.

Was haben wir denn in diesem Panorama-Beitrag gesehen? Was sehen wir auf den Bildern, die im Internet kursieren? Einmal sehen wir diese unsachgemäße Tötung eines Ferkels. Das geht wahrscheinlich wirklich in Richtung Straftat. Ich bin kein Staatsanwalt; aber das würde ich ungefähr da ansiedeln. Alles andere, was wir da gesehen haben, sind Ordnungswidrigkeiten.

Herr Stier und Frau Mortler, ich gebe Ihnen recht: Nicht die verletzten oder toten Tiere als solche sind in irgendeiner Form tierschutzrelevant, sondern die Tatsache, dass man sie sich selbst überlässt, dass sie eben nicht ausgesondert wurden.

(Dieter Stier [CDU/CSU]: Woher wissen wir das?)
– Woher wissen wir das? Das sehe ich als Tierarzt.

(Dieter Stier [CDU/CSU]: Das ist eine Momentaufnahme!)
– Das sind vielleicht für Sie Momentaufnahmen. Die Fachfrau sieht, dass das Schwein schon länger tot ist, und es liegt noch immer drin. Frau Stockhofe, dass jemand das Schwein unter den Arm genommen und da hineingebracht hat, das glauben Sie doch wohl nicht im Ernst.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)
– Das ist völlig egal. Ich verliere auch ab und zu einen Ohrring. Schweine verlieren ihre Ohrmarke auch. Das besagt gar nichts.

(Rita Stockhofe [CDU/CSU]: Sie als Tierärztin hätten doch sehen müssen, dass gar keine Beschädigungen am Schwein waren! Wenn es schon länger da gelegen hätte, wären doch andere Schweine längst dran gewesen!)
– Ich als Tierärztin sehe, dass das Schwein aufgegast ist. Das passiert nicht von einer Minute auf die andere.

(Rita Stockhofe [CDU/CSU]: Dann wären aber andere Schweine schon dran gewesen!)
– Nein, das muss nicht unbedingt sein. Man sieht ja im Film, dass die hingehen und daran herumschnuppern. Sie werden nicht zwingend zu Kannibalen, wenn da ein totes Schwein liegt. Aber das tote Schwein hätte herausgenommen werden müssen. Auch die verletzten Tiere hätten herausgenommen und sauber, trocken und weich aufgestallt werden müssen. Die Verletzungen hätten behandelt werden müssen. Es hätte eventuell ein Tierarzt hingezogen werden müssen. Das steht alles in § 4 Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung, und alle Landwirte haben sich daran zu halten. Nur weil das so ähnlich ist wie falsch parken, ist es trotzdem nicht legal.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vorhin wurde gesagt: Man hätte das ja filmen können, das Material dann aber den Veterinärbehörden geben sollen; die hätten sich kümmern müssen. – Dann wäre aber wahrscheinlich wieder nichts passiert.

(Rita Stockhofe [CDU/CSU]: Dann lassen wir es gleich!)
– Nein, wir lassen es nicht gleich. Wir unterhalten uns hier über die Konsequenzen, die wir aus diesen Berichten ziehen wollen. Allein die Verschärfung von Gesetzen, sagen manche, wird es nicht bringen. Herr Stier, Sie sagen, wir hätten so hohe Tierschutzstandards in Deutschland.

(Dieter Stier [CDU/CSU]: Die umgesetzt werden müssen! – Ingrid Pahlmann [CDU/CSU]: Haben wir auch!)
– Nein, haben wir nicht. – Wir können uns über unsere Gesetze, unsere Bestimmungen und unsere Verordnungen unterhalten, darüber, ob die verankerten Standards wirklich so hoch sind. Wenn wir aber mit anderen europäischen Ländern vergleichen, wie bei uns Tierschutz betrieben wird, dann stellen wir fest, dass wir erhebliche Vollzugsdefizite haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bußgelder, die bei Tierschutzverstößen verhängt werden, sind in Deutschland am niedrigsten. Sie sind schon niedrig angesetzt. Hinzu kommen aber – wie soll ich sagen? – schmerzfreie Amtsrichter, die auf das Geplärre der Landwirte hören – wir haben ja gehört, was für Ausreden es gibt – und dann einknicken und die Bußgelder drastisch senken, wenn sie sie nicht sogar gleich auf null reduzieren.

(Ingrid Pahlmann [CDU/CSU]: Wie arbeiten Sie denn eigentlich?)
– Wie arbeite ich denn eigentlich? Die Veterinärämter sind personalmäßig schlecht ausgestattet; das stimmt. Wenn man sich zum Beispiel die personelle Ausstattung im Veterinäramt im Kreis Borken anschaut – ich weiß jetzt auch nicht, wie ich auf diesen Kreis komme – und ins Verhältnis setzt, wie viele Betriebe dort zu überwachen sind, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Veterinäre alle zwölf Jahre einmal einen Betrieb besuchen. Sie brauchen also zwölf Jahre, um alle Betriebe kontrolliert zu haben.

Ich finde, der eigentliche Skandal sind unsere Vollzugsdefizite. An jedem Schlachthof steht bei der Anlieferung ein Tierarzt, und er sieht genau, in welchem Zustand die Tiere ankommen. Im Übrigen: Wer gegen die Tierschutz-Nutztierhaltungsordnung verstößt, verstößt oftmals auch gegen die Tierschutztransportverordnung. Der amtliche Tierarzt, der vor Ort ist, kann Missstände sofort ahnden. Er sieht, in welchem Zustand die Tiere ankommen. Als Fachmann sieht er, ob Tiere behandelt worden sind – er erkennt, wie frisch Verletzungen und Erkrankungen sind – oder ob sie nicht behandelt worden sind.

Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Thissen, es tut mir leid, dass ich Ihnen jetzt einen Punkt setzen muss; aber das Minus vor der Zeitangabe zeigt die Überziehung Ihrer Redezeit an.

Dr. Karin Thissen (SPD):
Tatsächlich?

Vizepräsidentin Petra Pau:
Tatsächlich.

Dr. Karin Thissen (SPD):
Darf ich noch einen Satz sagen?

Vizepräsidentin Petra Pau:
Einen Satz, der mit einem Punkt endet.

Dr. Karin Thissen (SPD):
Okay, einen Satz, der mit einem Punkt endet. – Dann will ich noch einen Satz zum investigativen Journalismus sagen: Wenn staatliche Strukturen versagen, wenn Missstände auf allen Ebenen bekannt sind und über Jahre hingenommen werden, dann hat die Presse das Recht, mindestens die moralische Pflicht, diese Missstände zu dokumentieren und anzuprangern. Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)