Die Bundeskanzlerin hat 2011 einen Zukunftsdialog organisiert, der jetzt zu Ergebnissen führt. Sie hat damals 129 Expertinnen und Experten gebeten, zu drei Frage-Komplexen Antworten zu suchen: Wie wollen wir zusammenleben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir lernen?

Dreimal Bürgerdialog vor Ort gab es, dazu Online-Dialoge. In einem Notizen-Buch, seit drei Wochen auf dem Markt, sind Ideen und Gesprächsfetzen, Vorschläge und Stimmungen des Dialogs vorweg skizziert, ein bisschen Atmosphärisches auch. An diesem Dienstag nun hat Angela Merkel den Bericht der Expertengruppe überreicht bekommen.

Wenn man nicht politisch ignorant ist, interessiert einen so etwas, und man sieht sich die Notizen an. Zukunft ist ja wichtig. Das Vorwort der Herausgeberin Merkel dämpft die Neugier zwar und verwundert stellenweise. Aber man merkt: Mindestens unter zwei Gesichtspunkten lohnt es, sich gründlicher auf den Vorgang einzulassen. Erstens der Methode wegen und zweitens um der Definition von Zukunft willen.

Zu diesem inhaltlichen Aspekt: "Es muss Schluss gemacht werden mit einer Politik, die kein Morgen kennt. Unsere Art zu leben, zu wirtschaften, und auch manches von dem, wie wir Politik machen, müssen sich ändern", schreibt Angela Merkel im Vorwort. Das ist stark. Lesen wir da die heimliche, aber wahre Merkel? Oder erlebt sie grade ihr Bekehrungserlebnis? Schluss mit einer Politik die kein Morgen hat! Das ist ein Kanzlerinnenwunsch, der es in sich hat.

Die Ernüchterung kommt schnell, wenn Merkel sich fragt, "wie Deutschland in zehn Jahren" aussehen soll. Wer zehn Jahre für die Zukunft hält, wie weit hat der denn bisher vorausgeschaut? Denkt der an das Jahr 2030 oder 2050? Ja, Prognosen über das, was in 20 oder 40 Jahren sein wird, haben ihre Grenzen. Aber Wesentliches wissen wir sehr wohl. Auch dass vieles, was jetzt unterbleibt, in 20 oder 40 Jahren nicht mal eben schnell geregelt werden kann. Die Fixierung auf die kurze Strecke der Legislaturperiode oder auch des Jahrzehnts verursacht den Tunnelblick, der die Nachhaltigkeit verhindert.

Die Bundesregierung ignoriert entsprechend in ihrem Handeln alle Tage wieder den Gedanken der Nachhaltigkeit: Die Torpedierung des Programms "Soziale Stadt" zeigt dies, das Nein zum Mindestlohn, die Pläne zum Betreuungsgeld, die Verschleppung des Präventionsgesetzes, die Verweigerung einer wirklichen Pflegereform, die Kürzung der Mittel für den Umbau zu familien- und altengerechten Wohnungen. Das sind nur einige Beispiele.

Einige der beteiligten Experten haben ihren Finger in diese Wunden gelegt. Sie fordern die Verknüpfung von Ideen, eine Grundbedingung nachhaltiger Politik. Sie stellen fest, dass Jugendschutz im Netz nicht funktioniert, dass Altern nicht zu verherrlichen ist. Oder dass Normen ernst zu nehmen eine deutsche Stärke ist, dass Kinder und Jugendliche Erfahrungswissen brauchen. Oder dass der Weg der dualen Ausbildung von großer Bedeutung ist für die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und auch für die Berufschancen vieler junger Menschen, denen das Studium als einfacherer Weg des Aufstiegs vorgegaukelt wird.

Es gibt viele spannende Ideen und interessante Positionen unter diesen Experten. Einer fordert, neben den ökonomischen auch ökologische Schulden zu begrenzen. Ja, das ist klug, und dabei fallen einem gleich die sozialen Schulden ein und dass es, um hier den Bankrott zu vermeiden, einen vorsorgenden Sozialstaat und handlungsfähige Kommunen braucht.

Manche Forderungen lassen den Verdacht aufkommen, dass bei der ganzen Aktion letztlich doch die Merkel-PR wichtiger ist als die Nachhaltigkeit. Anderes klingt bemüht, manchmal geradezu komisch. Da werden Wanderausstellungen vorgeschlagen, soll sich Deutschland mehr bewegen, braucht es einen Rat der Außenweisen oder eine Agentur für gesellschaftliche Erneuerungsfähigkeit, soll der Preis für das produktivste Scheitern ausgelobt, ein netzwerkbasiertes Bundesinstitut für Fortschrittsfragen eingerichtet werden. Die Kanzlerin soll eine jährliche Bildungsreise unternehmen und einen Tag für das Lernen einrichten. Auch die Webseite mit allen Projektruinen im Land verspricht, lustig zu werden.

Was fehlt: Die Sicherung des Sozialstaates bei stark veränderten Altersstrukturen, die Rolle der Kommunen insbesondere bei der Gestaltung des demografischen Wandels und ihre sehr unterschiedliche Betroffenheit in diesem Prozess. Es fehlen alle Fragen nach dem Verhältnis von Bund, Ländern, Kommunen, aber das mag auch an der Fragestellung der Bundeskanzlerin liegen.

Angela Merkel stellt gleich im Vorwort fest: "Der Zukunftsdialog findet außerhalb üblicher politischer Strukturen und Zeitpläne statt." Das klingt, als wisse die Kanzlerin, die ja auch Fraktionsvorsitzende war und Parteivorsitzende ist, wenig von dem, was Fraktionen und Parteien im Alltag alles leisten, wie viele Kontakte sie knüpfen, Dialoge führen, Anhörungen oder Ortsbesichtigungen sie organisieren. Das gilt zumindest für die Fraktion und Partei, die ich genau kenne - nach allem, was ich weiß, aber auch für die Partei der Kanzlerin.

Bei diesem Zukunftsdialog werden die Gespräche vom Kanzleramt und oft im Kanzleramt organisiert. Es agiert die Kanzlerin persönlich; gelegentlich tritt sie bei den Expertenrunden auf, zuhörend, fragend, kommentierend, bis sie, klar, schnell nach Brüssel muss und anderswohin in den politischen Alltag. Minister spielen bei all dem keine Rolle. Es dialogisiert das Unikat Merkel. Als wäre sie die Präsidentin des Landes - oder die Generalsekretärin.

Ein bisschen schade, denkt man am Ende. Schade um viele kluge, engagierte, belebende, zukunftsweisende Gedanken und die offensichtliche Lust vieler Beteiligter am Zukunftsdialog. Ja, es lohnt sich, diesen Dialog zu führen.

Aber das ungute Gefühl bleibt letztlich dominierend angesichts der -ahnungslosen oder absichtsvollen? - Ankündigung der Kanzlerin, dass "auch weiterhin viele Entscheidungen in der Hand der Politik, im Parlament, und in der Regierung liegen. Doch was wir brauchen, das sind neue Wege, um zu diesen Entscheidungen zu kommen."

Neue Wege, am Ende gar am Parlament vorbei? War das nur schnell mal so hingesagt? Jedenfalls denkt man dann doch mit Argwohn über etwas nach, was einem aufgefallen ist. Man hat das zunächst für einen Flüchtigkeitsfehler halten wollen. Wohl möglich aber, dass es doch mehr als das ist: Das Wort Demokratie kommt im Vorwort der Bundeskanzlerin nicht vor. Es bleibt im ganzen Buch Mangelware.