Im Interview mit spdfraktion.de nimmt Martin Gerster, sportpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, zu den Geschehnissen rund um den Fußball Stellung:
Nach den Fan-Eskalationen in den Fußballstadien wird der Ruf nach Konsequenzen laut. Was muss nun vonseiten der Politik getan werden, um die Sicherheit in den Stadien zu gewährleisten?
Zunächst sollte man zur Klarstellung ein wenig differenzieren: Auf dem Weg zum und vom Stadion ist die Landes- bzw. Bundespolizei zuständig für die Sicherheit. Im Stadion selbst hat zunächst der Verein bzw. der Veranstalter für die Sicherheit und Eingangskontrollen zu sorgen – natürlich immer in Absprache mit der Polizei, die ebenfalls im Stadion vor Ort ist. Dieses Zusammenspiel muss weiter verbessert und intensiviert werden.
Besonderes Augenmerk sollte auf das verbesserte Zusammenwirken der Sicherheitskräfte und Vereine mit den Fans und Fanprojekten gelegt werden. Der Dialog zwischen den Sicherheitskräften und den Fans muss dringend ausgebaut werden, um Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen. Hier liegt noch viel Potenzial für Verbesserung.
Die Verbände wollen die Klubs an den Runden Tisch bitten, um einen Maßnahmenkatalog zu erstellen. Genügt das, oder sollte der Gesetzgeber in jedem Fall tätig werden? Welche Maßnahmen sollten die Klubs und Verbände nun treffen?
Die gesetzliche Grundlagen sind meines Erachtens ausreichend. Ich sehe eher Defizite in der Umsetzung – ohne hier Schuldzuweisungen an einzelne Beteiligte machen zu wollen.
Leider erfolgt nach Ausschreitungen bei Fußballspielen oft ein großer medialer Aufschrei , der dann ebenso schnell wieder verpufft. Es werden Verschärfungen und drastische Maßnahmen gefordert, die martialisch klingen und Null-Toleranz gegenüber Chaoten versprechen, in der Realität aber nicht durchsetzbar sind. Ein Beispiel ist der in letzter Zeit viel diskutierte Einsatz von Gesichtsscannern und/oder Körperscannern beim Betreten des Stadions – so Bundesinnenminister Friedrich (CSU) bzw. der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern Caffier (CDU). Das hört sich in der öffentlichen Diskussion zunächst gut an. Fragt man dann aber die Fachleute von Sicherheitskräften, Polizei und Stadionbetreibern, wird schnell klar, dass dies technisch gar nicht umsetzbar ist – von datenschutzrechtlichen Bedenken mal ganz abgesehen.
Ich denke, wir brauchen einen Mix aus Repression, Prävention und Kooperation. Wir müssen gegen gewalttätige Ausschreitungen deutlich Zeichen setzen, sei es durch Stadionverbote und/oder zügige strafrechtliche Sanktionierung. Gleichzeitig müssen wir weiter präventiv tätig werden und dazu die Kooperation mit den Vereinen, Fanprojekten und den Fangruppen (auch den Ultras) suchen. Das braucht Zeit, Geld und Geduld – aber das sollte es uns wert sein.
Stichwort Ultras. Was steckt hinter diesem neuen Typus von Fan?
Die Ultras sind entgegen landläufiger Meinung nicht die Nachfolger der Hooligans der 80er-Jahre. Zwar gab es immer wieder auch Meldungen über gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Ultragruppen und sogar Übergriffe von Ultras auf friedliche Fans und Familien (besonders negativ ist in letzter Zeit die Ultragruppe des 1.FC Köln, die Wilde Horde, aufgefallen). Man muss sich diesem neuen jugendkulturellen Phänomen aber differenziert annähern und nicht nur die negativen Auswüchse zur Kenntnis nehmen.
Zunächst geht es den Ultras um die ultimative und bedingungslose Unterstützung des eigenen Vereins. Diese jungen Menschen planen und erarbeiten teils wochenlang aufwendige Choreographien, um ihre Mannschaft im Stadion zu unterstützen. Dabei begleiten sie die Entwicklung der eigenen Mannschaft und der Liga insgesamt kritisch – man denke nur an die Aktion „Pro 15.30 Uhr“, die eine weitere Aufsplitterung der Anstoßzeiten verhindert hat. Vor allem aber haben viele Ultragruppen einen entscheidenden Anteil daran, dass Rechtsextremismus und Rassismus in unseren Stadien weiter zurückgedrängt werden.
Auf der anderen Seite muss man auch Grenzen aufzeigen. Dass beispielsweise Kölner Ultras in einer Disco einen Spieler von Bayer Leverkusen attackieren und die Nase brechen, nur weil er Spieler einen rivalisierenden Mannschaft ist – das ist ein Skandal, hat mit Fußball und Sport nicht zu tun und muss auch in den Ultraszenen geächtet werden.
Sollte Pyrotechnik verboten werden?
Pyrotechnik ist schon jetzt nach dem Versammlungsstätten-Gesetz und dem Sprengstoff-Gesetz verboten und muss auch verboten bleiben. Das Abbrennen von bis zu 2000°C heißen Fackeln inmitten von unbeteiligten Zuschauerinnen und Zuschauern ist eine große Gefahr. Man kann von Glück sagen, dass es bisher zu keinen schweren Verletzungen gekommen ist. Die überwiegende Mehrheit der Fans will den Lieblingsverein anfeuern – ohne Bengalos.
Die Welt blickt zur Europameisterschaft auf die Ukraine. Sollte die Bundesregierung den Spielen dort fernbleiben? Werden Sie hinreisen?
Nein, ich werde nicht zur Europameisterschaft reisen – das hatte ich aber ohnehin nicht vor. Die Bundesregierung sollte sich gut überlegen, ob man den ukrainischen Machthabern eine Aufwertung zuteil werden lässt, in dem man sich mit ihnen auf die Tribüne setzt. Ich denke, unser Bundespräsident hat ein wichtiges und herausragendes Zeichen gesetzt, in dem er vor einigen Wochen seine Beteiligung an einem Treffen der Staatsoberhäupter in der Ukraine abgesagt hat.
Sollten Sportler sich öfter auch zu gesellschaftlichen Problematiken wie etwa der Ukraine oder eben den Fan-Krawallen äußern?
Sportlerinnen und Sportler können und sollen sich zu gesellschaftlichen Problemen äußern – wenn sie das möchten. Viel wichtiger finde ich, dass sich der organisierte Sport und die Sportverbände ihrer Verantwortung bewusst sind. Gerade bei den internationalen Verbänden liegt meiner Meinung nach einiges im Argen. So ist mir beispielsweise unerklärlich, wie der internationale Eishockeyverband die Weltmeisterschaft 2014 an Weißrussland vergeben konnte – eine menschenverachtende Diktatur, die durch solche Entscheidungen noch gestärkt wird. Hier müssen sich die Verbände auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen.
Buch über Ultras in Deutschland
Martin Gerster hat gemeinsam mit Oliver Stegemann und Alexander Geisler für das Buch „Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur“ einen ausführlichen Beitrag zum Thema „Ultras und Sportpolitik in Deutschland“ verfasst. Dort beleuchten die Autoren Missverständnisse im Umgang mit Ultras und anderen Fangruppierungen.
Der Essay schlüsselt insbesondere im Detail auf, welche Möglichkeiten die Politik überhaupt hat, im Spitzen- bzw. Breitensport tätig zu werden. Denn immerwieder werden Forderungen laut, die Bundesregierung oder der Deutsche Bundestag mögen diese oder jene Entscheidung treffen. Doch die Einflussmöglichkeiten sind gering. In Deutschland nämlich gilt die so genannte Autonomie des Sports. Sie legt fest, dass die Organisationen des Sports ihre Angelegenheiten unabhängig und eigenverantwortlich selbst regeln. Der Sport besitzt ein Selbstverwaltungsrecht. Diese Autonomie ist eine direkte Folge und Lehre aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die auch die Sportverbände gleichschaltete und ihrer menschenverachtenden Ideologie unterwarf.
Politik kann also Rahmenbedingungen setzen, koordinieren und moderieren, ansonsten aber haben Verbände wie der DFB weitreichende Selbstorganisationsrechte.
Mit Blick auf das weit vorherrschende „Feindbild“ Ultras fordern die Autoren um Martin Gerster:
- Das Feindbild „Fan“ auflösen. Fans weniger in Kategorisierungen wie normal, gewaltbereit und gewaltsuchend einordnen, sondern seitens der Polizei deutlicher die psychologische Dimension anerkennen und die wissenschaftliche Diskussionen in Konzepte miteinbauen.
- Das Feindbild „Polizei“ auflösen. Nicht nur durch Stadionbetreiber und Vereine, sondern auch durch die Fankurven muss eine Ächtung der menschenverachtenden Logik des „all cops are bastards“ stattfinden. Es kann auch nicht sein, dass Einzelne aus der Fankurve die Polizei provozieren und sich dann in der Kurve verstecken und um Unterstützung buhlen.
- Den Dialog mit den Fans suchen. Bei Runden Tischen müssen Fans stärker direkt miteinbezogen werden, sodass mit ihnen und nicht nur über sie gesprochen wird.
- Fanprojekte vor Ort stärken. Finanzierungsengpässe blockieren die lokale und kommunale Arbeit bei Fanprojekten. Denn hier können Verbesserungen am ehesten konkret erreicht werden. Die soziale Arbeit muss gestärkt werden.
- Es gilt, so schreiben die Autoren, vertrauensbildende Maßnahmen zu verstärken. Statt öffentlicher Aufregung „ist ein ruhiger Blick auf die Entwicklungen innerhalb der Fanszenen notwendig, der die positiven Aspekte des Fantums wertschätzt und gleichzeitig die Bereitschaft weckt, Defizite und Exzesse klar zu benennen und anzugehen“.