Der mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen verabschiedete Entschließungsantrag "60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden" beschädigt das Ansehen Deutschlands in Europa. Er weckt die berechtigte Besorgnis, das Parlament werde für eine Relativierung historischer Verbrechen instrumentalisiert.

Die Forderung der Fraktionen von CDU/CSU und FDP ausgerechnet den 5. August, den Jahrestag der Verabschiedung der Vertriebenen-Charta, dem Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar entgegen zu setzen, lässt jedes Gespür für einen verantwortungsvollen Umgang mit unserer Geschichte vermissen. Die Bundesregierung muss jetzt deutlich machen, dass sie diesem Ansinnen der Koalitionsfraktionen nicht nachkommen wird.

Vertreibung war, ist und bleibt ein Unrecht. Daran zu erinnern ist aller Ehren wert. Wer allerdings die Charta der deutschen Heimatvertriebenen und die Vertriebenenverbände zu einem einzigen Versöhnungswerk stilisiert, verklärt diese einseitig und blendet viele bedenkliche Aspekte der Charta und des ursprünglichen Wirkens vieler Funktionäre der Vertriebenenverbände bewusst aus.

Gerade die Vertriebenenverbände aus der Gründerzeit der Bundesrepublik hinkten den wirklich bedeutsamen Gesten der Versöhnung - insbesondere mit unseren polnischen Nachbarn - immer hinterher. Zu den Meilensteinen dieser Versöhnung - sei es der Brief der polnischen Bischöfe aus dem Jahr 1965 oder Willy Brandts Kniefall 1970 vor dem Denkmal des Warschauer Gettos - gehört der 5. August 1950 nicht.

Von Anfang an konnte sich der durchaus in Ansätzen in der Charta vom 5. August vorhandene Geist der Versöhnung in der Verbandspolitik der Vertriebenen nicht durchsetzen. Denn in dieser Charta weht ein strenger Geist des Revanchismus. Wer sich selbst vor dem Hintergrund des vom Deutschen Reich verursachten Holocaust zu der Opfergruppe erklärt, deren Schicksal an Leid vom Schicksal keiner anderen Opfergruppe übertroffen wurde, relativiert ein präzedenzloses Verbrechen an der Menschlichkeit. Wer dann zusätzlich meint, den Verzicht auf Rache und Vergeltung - eine zivilisatorische Selbstverständlichkeit - pathetisch herausstellen zu müssen, verdreht nicht nur Ursache und Wirkung des erlittenen Schicksals, sondern verhöhnt geradezu die Opfer des NS-Unrechts. Ein Unrecht, an dessen Ausübung im Übrigen auch namenhafte Vertriebene und spätere Vertriebenenfunktionäre beteiligt waren. Nein, den Geist der Versöhnung haben die meisten Spitzenfunktionäre der Vertriebenen schamvoll in der Flasche gelassen. Der in der Charta ebenso zu findende Geist von Revanchismus und Geschichtsrelativismus behielt leider meist die Oberhand. Die Politik der Vertriebenenverbände war viel zu oft gegen die Versöhnung ausgerichtet: Gegen die Ostverträge. Gegen die Oder-Neiße-Linie. Sogar gegen den EU-Beitritt Polens und Tschechiens erhob Frau Steinbach im Bundestag lautstark Bedenken.

Die Direktorin des Berliner Büros des American Jewish Committee (AJC) Frau Deidre Berger erklärte in einer Pressemitteilung: "Dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar jedoch einen bundesweiten Tag zum Gedenken an die Opfer der Vertreibung am 5. August gegenüber zu stellen, relativiert sichtbar die Zentralität des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur." Dieser Einschätzung stimmen wir ausdrücklich zu.

Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag erwartet von der Bundesregierung, dass diese, durch eine zügige Absage an die Forderung nach einem Vertreibungsgedenktag am 5. August, dem unwürdigen Umgang der Koalitionsfraktionen mit unserer Geschichte ein schnelles Ende bereitet. Deutschlands Ansehen bei unseren Freunden überall in der Welt darf nicht weiter beschädigt werden.