Herr Steinmeier, beneiden Sie die Kanzlerin um ihr Dasein?

Frank-Walter Steinmeier: Ich beneide niemanden, der für dieses tägliche Koalitions-Chaos verantwortlich ist.

Angela Merkel weiß: Bei allen wichtigen Europa-Themen steht die SPD an Ihrer Seite …

Frank-Walter Steinmeier: In der Europapolitik bilden wir uns unsere eigene Meinung und machen uns nicht abhängig von Vorschlägen der Bundesregierung. Es ist doch eher umgekehrt: Viele Vorschläge der SPD hat die Koalition erst abgelehnt, über Monate hinweg bekämpft – um sie dann ein halbes Jahr später zu übernehmen.

Eine Besteuerung der Finanzmärkte fordern Sie bisher erfolglos.

Frank-Walter Steinmeier: Vor zwei Jahren gehörte ich zu den ersten, die Konsequenzen aus der Finanzkrise verlangt haben: Erstens Neuverschuldung reduzieren, zweitens Regeln auf den Finanzmärkten schaffen und drittens Anlagegeschäfte besteuern. Unsere Argumente überzeugen doch offenbar viele, nicht nur im europäischen Ausland, sondern sogar einige in der Bundesregierung.

Sehen Sie denn die Bereitschaft zu einer Finanztransaktionssteuer in der gesamten Regierung?

Frank-Walter Steinmeier: Beim Finanzminister bin ich mir nicht mehr so ganz sicher. Früher war das so! Jüngste Äußerungen lassen da starke Zweifel aufkommen. Vor allem aber geht es darum, den Widerstand der FDP zu brechen. Das ist Aufgabe der Bundeskanzlerin. Dafür gibt es Entscheidungen im Kabinett. Dafür gibt es die Richtlinienkompetenz.

Ist Sigmar Gabriels Wort „Junktim“, das eine Zustimmung zum Fiskalpakt nur bei Einführung einer Finanztransaktionssteuer vorsieht, nun im Sprachgebrauch der SPD tabu?

Frank-Walter Steinmeier: Weder die Grünen noch die SPD werden Vorschläge der Koalition einfach abnicken. Das gilt auch in europäischen Fragen. Jeder – auch die Bundesregierung - weiß, dass wir schon aus Gründen der Gerechtigkeit die Finanzmärkte besteuern müssen. Deshalb ist es leichtsinnig, wenn die FDP-Spitze keine Gespräche mit der Opposition führen will. Es ist genau diese Leichtsinnigkeit und Unernsthaftigkeit die, die FDP in existenzielle Schwierigkeiten gebracht hat.

Ist es besser für die Stabilität des Euro, wenn Frankreich demnächst von Francois Hollande regiert wird – und nicht mehr von Nicolas Sarkozy?

Frank-Walter Steinmeier: Es wäre gut, wenn sich alle in Deutschland daran gewöhnen, dass Francois Hollande der nächste Präsident sein wird. Ich habe ihn in letzter Zeit einige Male getroffen. Er weiß, dass ein französisches Staatsoberhaupt nicht nur Verantwortung für sein eigenes Land trägt. Enge Zusammenarbeit zwischen den Nachbarn Frankreich und Deutschland wird auch in Zukunft der Schlüssel für europäische Fragen sein. Was den Fiskalpakt angeht, formuliert Francois Hollande ähnlich wie wir.

Wie fanden Sie Gabriels Auftritte mit Hollande?

Frank-Walter Steinmeier: Es ist keine schlechte Entwicklung, dass Wahlkämpfe sich zu europäisieren beginnen. Auftritte von Merkel, Gabriel und anderen zeigen, dass Wahlkämpfe nicht mehr nur eine rein nationale Angelegenheit sind – allerdings mit einen entscheidenden Unterschied: . Sarkozy und Merkel genehmigen sich Auftritte im öffentlichen Fernsehen und das zur besten Sendezeit – das geht nicht.

Peer Steinbrück, ein Mitbewerber um die SPD-Kanzlerkandidatur, hat die Formulierung geprägt, Differenzen innerhalb der SPD-Troika seien „erkennbar und erlaubt“. Hat er Recht?

Frank-Walter Steinmeier: Alles andere wäre doch lebensfremd. Die Elf-Freunde-Rhetorik passt nur sehr begrenzt in der Politik. Da kommen Leute mit unterschiedlichen Biografien und Mentalitäten - und machen trotzdem gemeinsame Arbeit. So sehe ich das für Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel und mich. Entscheidend ist doch, dass man sich – von unterschiedlichen Ausgangspunkten kommend – zu einer gemeinsamen Position zusammenfindet. Und das ist uns in den vergangenen zwei Jahren immer gelungen.

Haben Sie sich in den vergangenen Monaten mal richtig geärgert über ein Mitglied der Troika?

Frank-Walter Steinmeier: Nein. Wir drei gehen professionell mit Situationen um, in denen wir eine gemeinsame Haltung zu offenen Fragen finden müssen.

Was dachten Sie, als Gabriel auf Facebook von „Apartheid-Regime“ sprach – und Hebron meinte?

Frank-Walter Steinmeier: Ich kann mich an meine Reisen nach Palästina noch genügend gut erinnern. Und ich weiß, welche Emotionen einen bewegen angesichts der Menschen, die sich in der Region kaum frei bewegen können. Ich bin auf der anderen Seite so lange mit der Region befasst und auch persönlich so intensiv mit ihr verbunden, dass ich weiß: Es gibt nicht nur die eine Ungerechtigkeit. Ich weiß auch: Es gibt nur einen Weg, sich aus dem Dauerdilemma zu befreien. Das ist die Zwei-Staaten-Lösung. Und für die wird eindeutig zu wenig getan.

Hat sich Gabriel von den Möglichkeiten, die Facebook bietet, verführen lassen?

Frank-Walter Steinmeier: Facebook und Twitter zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie sprachliche Opposition gegen kommunikative Konventionen sind. Die Menschen wollen sich in sozialen Netzwerken direkter, auch emotionaler austauschen. Und nichts spricht dagegen, dass sich Politiker daran beteiligen. Man muss aber aufpassen. Es handelt sich nicht um völlig voneinander getrennte Sphären: Facebook hat Rückwirkungen in eine professionalisierte Kommunikation, die ja weiterhin besteht.

Sie verlangen Neuwahlen im Bund und lassen wissen, dass Sie „kein Problem mit schnellen Entscheidungen“ hätten. Ist das die offizielle Bewerbung um die Kanzlerkandidatur?

Frank-Walter Steinmeier: Sollte es keine vorzeitigen Neuwahlen im Bund geben, bleibt es dabei: Die Entscheidung fällt Anfang 2013 nach der niedersächsischen Landtagswahl. Das habe ich gesagt, nicht mehr und nicht weniger!

Wer entscheidet eigentlich über den Kandidaten? Der Vorsitzende, die Troika oder irgendein Gremium?

Frank-Walter Steinmeier: Der Kandidat wird gewählt vom Parteitag.  

Welche Rolle spielen Umfragewerte dabei?

Frank-Walter Steinmeier: Entscheidend ist die Frage, wer bei der Gesamtwürdigung aller Umstände die größten Chancen hat, die SPD in die Regierung zu führen. Natürlich spielen Umfragen eine Rolle. Von Bedeutung ist auch, wie der Kanzlerkandidat mit der eigenen Partei klarkommt und welche Chancen er in einem Wählerpublikum außerhalb der Partei hat. Das alles wird eingehen müssen in die Entscheidung.

Dann kommen nur Sie in Frage.

Frank-Walter Steinmeier: Quatsch!

Während Angela Merkel in Ihrem politischen Lager eine Konkurrenzpartei von zurzeit zwei bis vier Prozent hat, tummeln sich im linken Lager neben der SPD noch Grüne, Linke und Piraten. Für einen sozialdemokratischen Kanzler spricht diese Konstellation nicht eben …

Frank-Walter Steinmeier: Das lese ich genau andersherum. Es ist die Union, die ihren Koalitionspartner verloren hat und alles unternimmt, dass sich die FDP nicht mehr erholt. Da ist die SPD eindeutig in der besseren Lage.

Welche Machtoptionen sehen Sie?

Frank-Walter Steinmeier: Im Unterschied zur Union haben wir eine. Und ich bleibe dabei: Wir werden dafür kämpfen, eine Mehrheit für Rot-Grün zu erreichen. 

Wenn die Piraten so stark bleiben, werden Sie das nicht schaffen…

Frank-Walter Steinmeier: Ich bin weit davon entfernt, die Piraten zu ignorieren. Mir gefällt es nicht, dass sich die Umfragewerte im Moment zwischen acht und neun Prozent liegen. Das muss uns schon deshalb nachdenklich machen, weil viele Stimmen für die Piratenpartei tatsächlich Protest gegen sogenannte etablierte Politik sind. Und die Grünen stellen überrascht fest, dass sie schon dazugezählt werden.

Welche Antwort haben Sie?

Frank-Walter Steinmeier: Wir dürfen den Piraten nicht angsterfüllt nachlaufen, aber wir müssen reagieren. Die gewachsenen Parteien müssen ihre Diskussionen so transparent führen, dass andere sie als Einladung verstehen. Außerdem müssen wir uns mit den Positionen der Piraten zur Netzpolitik ernsthaft auseinandersetzen. Wir müssen jungen Leuten sagen: Millionen Menschen im Kulturbereich leben davon, dass sie für ihre Kreativität bezahlt werden. Natürlich können wir die Dinge angesichts fortscheitender technischer Entwicklung nicht zurückdrehen. Aber wir müssen nach Modellen suchen, wie Beiträge aus Musik oder Malerei den Künstlern weiter das Überleben sichern. Mit ihrer strikten Haltung zum Urheberrecht gefährden die Piraten die Existenzgrundlage vieler Kreativer. 

Können Sie sich vorstellen, dass sich die Piraten wie zuvor die Grünen zu einer regierungsfähigen Formation verfestigen?

Frank-Walter Steinmeier: Zunächst einmal nehme ich ihr Engagement und den Willen, sich politisch einzubringen, sehr ernst. Die Auftritte von Repräsentanten der Piraten – sei es im Berliner Abgeordnetenhaus, sei es ihre geradezu tägliche Präsenz in den Talkshows – lassen mich aber daran zweifeln, ob die Piraten schnell regierungsfähig werden. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt regieren wollen. Als Regierungspartei könnten sie sich jedenfalls nicht mehr unwissend geben. Und das macht einen wesentlichen Teil ihres Charmes aus. Die Piraten gefallen sich als Störfaktor im System.

Herr Steinmeier, Sie verbringen die Ostertage im Urlaub in Südtirol. Was zieht Sie immer wieder in diese Region?

Frank-Walter Steinmeier: Ich habe die Hälfte meines Lebens Urlaub am Meer gemacht und konnte mir nie etwas anderes vorstellen – bis ich das erst mal in den Bergen war. Das ist 15 Jahre her. Seitdem liebe ich die Dolomiten und es zieht mich immer wieder dorthin. Der Blick von oben auf die Welt, meistens nach Anstrengung, aber jedenfalls mit Abstand tut gut!

Seit mehreren Jahren fasten Sie zwischen Ihrem Geburtstag am 5. Januar und Ostern. Jedenfalls verzichten Sie auf Alkohol. Was motiviert Sie dazu?

Frank-Walter Steinmeier: Der Alltag vieler Politiker ist von zu viel Routine geprägt. Dazu gehört das Arbeitsessen am Mittag und das Treffen am Abend – meistens mit Essen und einem guten Glas Rotwein. Deshalb versuche ich jetzt zum siebten oder achten Mal, das Jahr mit einer alkoholfreien Phase zu beginnen. Das tut mir gut.

Wie viel haben Sie dabei abgenommen?

Frank-Walter Steinmeier: Ich schau nicht auf die Waage, wenn´s aufwärts geht. Und ebenso wenig, wenn´s abwärts geht mit dem Gewicht. Ich weiß es nicht, aber es ist zur Zeit spürbar weniger.
 

Frank-Walter Steinmeier zur Pendlerpauschale:

„Die Debatte um die Pendlerpauschale dokumentiert das Chaos in dieser Koalition. Drei Wirtschaftsminister, nämlich Guttenberg, Brüderle und Rösler, haben angekündigt, gegen die Absprachen der Mineralölkonzerne anzugehen. Geschehen aber ist nichts. Es ist doch ein Witz, dass ausgerechnet der Umweltminister und chancenlose Spitzenkandidat in NRW Herr Röttgen, nun eine höhere Pendlerpauschale fordert. Seine Worte sind bedeutungslos: Diese Koalition wird streiten und am Ende wieder nichts bewegen.“

„Immer wieder wirft diese Koalition Steuergeld mit den Händen aus dem Fenster, mal für eine reduzierte Mehrwertsteuer für Hoteliers, mal für ein unsinniges Betreuungsgeld. Die kleinen Leute profitieren davon nicht. Wir brauchen eine grundsätzliche Reform des Steuersystems, nicht ständige Operationen an Details.“

Frank-Walter Steinmeier zum Betreuungsgeld:

„Schon die Debatte im Bundestag hat deutlich gemacht, wie viele in Union und FDP unserer Meinung sind und das Betreuungsgeld ablehnen. Es hilft nicht denjenigen, die es nötig haben. Es schafft vielmehr die falschen Anreize – nämlich in denjenigen Familien die Kinder zuhause zu lassen, die eine Betreuung nötig haben, etwa zum Spracherwerb. Viel dringender wird das Geld für den Ausbau der Kitas gebraucht.“

„Der Brief der 23 CDU-Abgeordneten, die gegen das Betreuungsgeld sind, war notwendig, um die katastrophal falsche Weichenstellung zu verhindern.“