Die für Innen- und Rechtspolitik zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Christine Lambrecht erinnerte an das Entsetzen in Deutschland, als im November 2011 bekannt wurde, dass die braune Terrorzelle NSU fast 14 Jahre lang unentdeckt morden, Sprengstoffanschläge und brutale Überfälle verüben konnte. Warum konnten die Täter unerkannt bleiben? Warum wurde nur im Umfeld der Opfer unter den Überschriften „Ausländerkriminalität“, „organisiertes Verbrechen“, „Mafia“ und „Drogenkriminalität“ ermittelt?

NSU-Untersuchungsausschuss leistet Aufklärungsarbeit

Fast zwei Jahre später liegt der 1000 Seiten starke Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses, der im Auftrag aller Fraktionen im Deutschen Bundestag eingerichtet wurde, vor. Darüber hinaus hat die SPD-Bundestagsfraktion eine eigene Bewertung und weitergehende Schlussfolgerungen erarbeitet.

Der Ausschuss hat insgesamt 40 Tage beraten, seine Mitglieder haben 1200 Akten gelesen und 107 Zeugen vernommen – darunter amtierende und ehemalige Ministerpräsidenten, Innenminister, Leiter von Verfassungsschutz und Polizei. Lambrecht verwies darauf, dass die Arbeit von Seiten mancher Behörde behindert worden sei, indem sie z. B. falsche Akten vorlegten. Der Ausschuss hatte über alle Parteigrenzen hinweg das gemeinsame Ziel, aufzuklären, wie es zu den grausamen Taten kommen konnte und warum sie nicht durch die deutschen Sicherheitsbehörden aufgeklärt wurden. Denn die Aufdeckung der NSU-Terrorzelle erfolgte eher zufällig, als sich Anfang November 2011 die Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in ihrem Wohnmobil Selbstmord begangen, die Rechtsterroristin Beate Zschäpe die gemeinsame Wohnung in Brand steckte und das grausame Video verschickte, in dem der NSU seine Opfer verhöhnte.

NSU-Terror zeigte Versagen von Behörden und Politik

„Die Ereignisse vom November 2011 haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Man weiß noch genau, wann und wo man davon erfahren hat“, sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer, Thomas Oppermann. Er schäme sich, dass mehr als sechs Jahrzehnte nach der NS-Zeit Menschen wegen ihrer Herkunft und Religion in Deutschland umgebracht werden können. Die furchtbaren Verbrechen der Neonazis seien nicht nur ein Anschlag auf die Demokratie, sondern sie zeigten auch das Versagen der Sicherheitsbehörden und der Politik. Oppermann erinnerte in diesem Zusammenhang an die Aussage des früheren Reichskanzlers Joseph Wirth von 1922 nach der Ermordung Walther Rathenaus: „Dieser Feind steht rechts“.

Sicherheitsbehörden reformieren und Zivilgesellschaft stärken

Notwendig seien ein Masterplan gegen Rechtsextremismus und eine Reform der Sicherheitsdienste, sagte Oppermann. Bildungseinrichtungen und zivilgesellschaftliches Engagement müssten gestärkt und Programme gegen Rechtsextremismus langfristig finanziert werden. Die Extremismusklausel, mit der die schwarz-gelbe Regierung die Arbeit von Organisationen gegen Rechts bremst, müsse abgeschafft werden.

Der Verfassungsschutz braucht geschulte Demokraten

Die Sicherheitsbehörden bräuchten mehr kulturelle Vielfalt und mehr interkulturelle Kompetenz. Die Ausbildung und Fortbildung der Polizei müsse zur Überwindung von Vorurteilen beitragen, forderte Oppermann. Nie wieder dürften Vorurteile den Blick verstellen. Die föderale Struktur von Polizei und Verfassungsschutz sei gut, denn vor Ort sei man dichter an den Vorfällen dran. „Das darf aber nicht zu kleinstaatlichem Behördenegoismus führen“, weshalb die Gesamtkoordinierung ausgebaut werden müsse. Außerdem müssten Verfassungsschützer geschulte Demokraten sein, denn der Verfassungsschutz sei eine Institution zum Schutz der Demokratie.

Mentalitätswechsel in Behörden notwendig

Der Vorsitzende  des NSU-Ausschusses Sebastian Edathy machte deutlich, dass die gesamte Sicherheitsarchitektur in Deutschland nicht auf Terror von Rechts vorbereitet war. Für den Untersuchungsausschuss sei es um zwei Kernfragen gegangen:

  1. Hätten die Hintergründe der Straftaten von 2000 bis 2007 durch eine andere Ermittlungsrichtung aufgedeckt werden können?
  2. Hätte das NSU-Terror-Trio durch abgestimmte Ermittlungsarbeit festgesetzt werden können?

Die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses hat gezeigt, „dass der Rechtsstaat nicht fehlerfrei ist, aber so stabil, dass er aufklären und Schlussfolgerungen ziehen kann“, sagte Edathy. Der Befund des NSU-Untersuchungsausschusses sei ein multiples, systemisches Versagen der Sicherheitsbehörden. Dafür gebe es strukturelle und mentale Ursachen. Die Arbeit der 36 Behörden, die in Deutschland für die innere Sicherheit zuständig sind, dürfe nicht von Eitelkeit, sondern müsse vom Willen der Zusammenarbeit geprägt sein, forderte Edathy. Das umfasse nicht nur die Weitergabe von Wissen zwischen Verfassungsschutz und Polizei, sondern auch innerhalb der Behörden. Bei den neun Morden an Menschen mit Migrationshintergrund und den Sprengstoffanschlägen mit vielen Verletzten sei nicht unvoreingenommen ermittelt worden. Hier müsse ein Mentalitätswechsel stattfinden.

Vorurteilsstrukturen aufbrechen

Es sei in den Ermittlungsbehörden zwar kein institutioneller Rassismus nachgewiesen worden, dennoch gebe es dort routinisierte, teilweise rassistisch geprägte Verdachts- und Vorurteilsstrukturen, erläuterte Eva Högl, SPD-Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss. Diese müssten untersucht und abgebaut werden. Außerdem müsse bei allen Fällen von Gewaltkriminalität an Menschen mit Migrationshintergrund untersucht werden, ob es einen rassistischen oder rechtsextremen Hintergrund gibt, forderte Högl.

Kommunikation mit Opfern und Angehörigen verbessern

Dem Untersuchungsausschuss sei es auch darum gegangen, Aufklärungsarbeit für die Opfer und ihre Angehörigen zu leisten. „Hier muss verlorengegangenes Vertrauen wieder hergestellt werden“, sagte Högl. Dazu solle ein geschulter und interkulturell kompetenter Familienverbindungsbeamter sensibel mit den Opfern und Angehörigen kommunizieren. Darüber hinaus soll es unabhängige Beschwerdestellen geben, bei denen Fehlverhalten der Polizei auf Bundes- und Länderebene gemeldet werden kann.

Aktionsprogramm gegen rechten Terror in NRW

In Nordrhein-Westfalen gebe es ein Aktionsprogramm gegen Nazi-Terror, erklärte der dortige Innenminister Ralf Jäger (SPD). Rechtsextremismus werde wirkungsvoller bekämpft. Dafür werde auch mehr Geld investiert. Dazu gehöre auch, rechtsextremistische Straftaten zu erfassen und Profile von rechtsextremistischen Tätern mehr in den Blick zu nehmen und Erkenntnisse auszutauschen. Der Bund solle koordinieren, dass entsprechendes Wissen weitergegeben werde.

Verfassungsschutz in Thüringen stärker kontrollieren

Wegen der haarsträubenden Erkenntnisse über die Arbeit des Verfassungsschutzes in Thüringen forderte Dorothea Marx (SPD) - Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Rechtsterrorismus und Behördenhandeln des Thüringer Landtags – personelle Konsequenzen und eine stärke Kontrolle. Zudem müsse es neben strukturellen Veränderungen eine öffentliche Debatte über die Sicherheitsdienste geben.

Sonderkommission „Kein Raum für Rechtsextreme“ in Dortmund

Auch in Dortmund konnte der Mord durch das NSU-Trio an einem türkischen Kioskbesitzer im April 2006 durch die Sicherheitsbehörden weder verhindert noch aufgeklärt werden. Doch mittlerweile sei die Bekämpfung ein Schwerpunkt der Polizeiarbeit in Dortmund geworden, berichtete der dortige Polizeipräsident Norbert Wesseler. In der Stadt ist auch nach Verboten verschiedener Strukturen wie dem „Nationalen Widerstand Dortmund“ eine große rechte Szene aktiv. Deshalb gebe es die Sonderkommission „Kein Raum für Rechtsextreme“, sagte Wessel. Alle Taten von Rechtsextremen würden ermittelt und die Erkenntnisse zusammengeführt. Dabei gehe es auch darum die Anonymität von Rechtsextremen aufzuheben. Die Polizei zeige auf Straßen und Plätzen, wo die Rechten sich aufhielten, mehr Präsenz und verhindere Störungen von Rechten bei Veranstaltungen. Ebenso gebe es in Dortmund und anderen Städten in NRW Opferschutzstellen als Ansprechpartner.  

Arbeit gegen Rechtsextremismus langfristig sichern

Erfolgreiche und dauerhafte Strategien gegen Rechtsextremismus seien notwendig, auch um Jugendliche dagegen immun zu machen, erklärte Sönke Rix, Sprecher der AG Strategien gegen Rechtsextremismus der SPD-Bundestagsfraktion. Dies sei eine gemeinsame Aufgabe des Staates und der Zivilgesellschaft. Oft seien Organisationen der Zivilgesellschaft besser über die rechte Szene informiert. Deshalb müsse die Arbeit für Demokratie und Menschenrechte dauerhaft und ihre Finanzierung gesetzlich gesichert sein, forderte Rix. Das spätere NSU-Trio sei der „akzeptierenden Jugendarbeit“ in einem Jugendclub bekannt gewesen, sie habe versagt. Deshalb müsse vor allem die präventive Jugendarbeit gestärkt werden. Demokratieerziehung beginne in Kitas und Schulen. Dafür müssten die Lehrpläne verbessert werden.

Gleichberechtigte Zusammenarbeit von Behörden und Zivilgesellschaft

Den Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses bezeichnete Timo Reinfrank von der Amadeu Antonio Stiftung als Meilenstein in der Rechtsextremismusforschung. Doch auch nach dem Bekanntwerden des NSU-Terrors habe sich vor Ort an den Brennpunkten und in der Polizeiarbeit nichts verändert. Ein Masterplan könnte das Stückwerk bei der Arbeit gegen Rechtsextremismus beenden. Dazu müsse es auch eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Behörden und zivilgesellschaftlichen Akteuren geben. In den Behörden müsse die Menschenrechtsbildung vorangebracht werden.

Menschenrechtserziehung gegen Diskriminierung

Jugendliche könnten selbst bei anderen Jugendlichen rassistische Einstellungen aufbrechen, berichtete Eberhard Seidel vom Projekt Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, an dem sich bundesweit 1326 Schulen beteiligen. In Einwanderungsländern müsse Menschenrechtserziehung gegen Diskriminierung wirken. Die Konsequenz aus dem NSU-Terror müsse auf jeden Fall die gesicherte Finanzierung des Projekts sein, dies forderten auch Timo Reinfrank und andere anwesende Vertreterinnen und Vertreter von Projekten, Initiativen und Jugendverbänden.

Behörden und Zivilgesellschaft mit der Wissenschaft enger verzahnen

Der Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion eine Beschwerdestelle für polizeiliches Fehlverhalten sei eine richtige Konsequenz aus der Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses, sagte Britta Schellenberg von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Des Weiteren forderte sie eine engere Zusammenarbeit von Behörden und Zivilgesellschaft. Wichtig seien z. B. Studien zu rassistischen Einstellungen bei der Polizei und in Bildungseinrichtungen.

Mehr Sensibilität gegenüber Rechtsextremismus

Alle Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer waren sich einig, dass der Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses und seine Handlungsempfehlungen nicht in der Schublade verschwinden dürfen. Dazu müsse der Dialog fortgesetzt werden. Die Verantwortung für die Reform der Sicherheitsbehörden und den gesellschaftlichen Mentalitätswechsel liegt bei Bund, Ländern und Kommunen, aber auch bei der Zivilgesellschaft. Wir brauchen mehr Sensibilität gegenüber Rechtsextremismus.

Die vorläufige Fassung des kompletten Abschlussberichts finden Sie hier.

 

Video vom Fachgespräch "Konsequenzen aus dem NSU-Terror" (Teil 1)

 

 

Video vom Fachgespräch "Konsequenzen aus dem NSU-Terror" (Teil 2)