In seiner Rede zu der Ausstellung "150 Jahre deutsche Sozialdemokratie: Für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" sagte der SPD-Fraktionschef, die Sozialdemokratie sei stets "ein- und aufgestanden, immer wieder, ohne Wenn und Aber, für die Demokratie in unserem Land".

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Sozialdemokratie!

Vor gar nicht langer Zeit traf ich in Jüterbog in meinem Wahlkreis auf einen Mann, der war als Kind mit seinen Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Osten vor der Roten Armee geflohen. Sein Vater war bereits vor 1933 in der SPD gewesen und gründete kurz nach der Ankunft in der neuen Heimat die SPD Jüterborg neu. Da gab es damals eine Gründungssitzung, und zu der brachte ein alter Jüterboger Sozialdemokrat eine SPD-Fahne mit. Aus dem Jahre 1912, wie das Parteiabzeichen verriet. Die Fahne hatte die Wirren des Ersten Weltkriegs über-standen, sie war in der Revolution gehisst worden, und hatte in der Weimarer Republik Parteiveranstaltungen geschmückt. Die Nazizeit hatte sie versteckt in einem Schornstein überdauert. Jetzt, nach 1945, sollte sie endlich wieder in Gebrauch genommen werden. Aber - Sie ahnen es: Das währte nicht lange. Mit der Vereinigung von SPD und KPD musste die Fahne erneut verschwinden. Der Vater des Mannes versteckte sie in einer Blechkiste im Keller. Nach der Wiedervereinigung, sein Vater war inzwischen gestorben, fand der Mann die Fahne eher zufällig wieder, und brachte sie dem frisch gewählten Vorsitzenden der erneut wiedergegründeten SPD Jüterborg, wo sie heute im Unterbezirksbüro der Partei hängt - als Erinnerung und Teil der bewegten Geschichte einer Partei: Einer Partei und einer Geschichte, wie es sie in Deutschland kein zweites Mal gibt.

Meine Damen und Herren,
Pathos ist uns Deutschen – und das hat Gründe - im Allgemeinen unangenehm. Es gibt deshalb wenig Momente, an denen wir unseren Stolz und unsere Erinnerung öffentlich machen. Aber die Fähigkeit zum Stolz auf die eigene Geschichte darf uns auch nicht völlig abhnanden kommen. Zum Beispiel, wenn man die Geschichte dieser Fahne hört, die im Kleinen das Große zeigt. Wenn man erinnert wird an Mitglieder des eigenen Ortsvereins, die den Einsatz für sozialdemokratische Ideen mit Flucht, Haft oder gar dem Leben bezahlt haben – in manchen Familien nicht nur einmal in der Geschichte! Oder wenn man in den Spuren sozialdemokratischer Vorgänger geht, die Geschichte gemacht haben. Auch (das kann ich Ihnen versichern!), wenn man als Vorsitzender der Bundestagsfraktion in die Nachfolge von Otto Wels gewählt wird und sein Erbe weiterzutragen hat!

Die Sozialdemokratie war und ist nie perfekt – aber sie hat doch, in entscheidenden Momenten der deutschen Geschichte, auf der richtigen Seite gestanden. Sie ist ein- und aufgestanden, immer wieder, ohne Wenn und Aber, für die Demokratie in unserem Land.

Zum Beispiel im Jahr 1918: Das Land ist in Aufruhr nach einem verlorenen Krieg und dem Aufstand der Matrosen. Arbeiter und Soldaten im ganzen Reich erheben sich. Die Erwartungen an die SPD sind riesig, aber vor allem sind sie ganz unterschiedlich: Die einen träumen von der Revolution, von Sozialisierung und einer Räterepublik, die alle Macht den Arbeitern gibt. Andere wollen vor allem die Ordnung schnell wieder herstellen.
Die Sozialdemokratie versucht mit allen Mitteln, einen Bürgerkrieg zu vermeiden. „Kein Bruderkampf“, schwört sie ihre Anhänger ein. Und sie entscheidet sich: Für die parlamentarische Demokratie! In Verhandlungen über die Regierungsbildung mit der USPD stellt sie klar, dass es mit ihr keine Diktatur des Proletariats geben werde – „weil die Diktatur einer Klasse, hinter der nicht die Volksmehrheit steht, unseren demokratischen Grundwerten widerspricht“.

Kein Wunder also, dass die Mehrheit der SPD-Delegierten nur wenig später auf dem Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte die Wahl einer Nationalversammlung durchsetzt – und damit die Weichen stellt für ein parlamentarisches System in Deutschland. Wir können nur erahnen, dass innerstaatlicher Friede auf Messers Schneide stand. Die Historiker werden später urteilen: Das entschlossene Verhalten der Sozialdemokraten um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann in den Monaten der Revolution hat unserem Land viel Blutvergießen erspart, und den Grundstein gelegt für die erste Demokratie auf deutschem Boden.

Zweiter Wendepunkt, Deutschland im März 1933. Hitler ist Reichskanzler, die Kommunisten sind aus dem Reichstag verbannt, das erste Konzentrations-lager in Dachau ist gerade eröffnet worden. 26 Mitglieder der SPD-Fraktion sind bereits verhaftet oder auf der Flucht. Das Parlament tagt in der Kroll-Oper, aber nach einem Parlament sieht es nicht mehr aus: Die Wände sind mit der Hakenkreuz-fahnen bekleistert, SA-Leute schüchtern die Abge-ordneten ein. Die SPD-Fraktion, oder was von ihr übrig geblieben ist, berät vor Beginn der Sitzung über ihre Haltung zum sogenannten Ermächtigungsgesetz. Soll sie mit Nein stimmen, und ein Gesetz ablehnen, mit dem der Reichstag seine Rechte als Gesetzgeber abgibt? Oder ist es doch vernünftiger, die Sitzung zu boykottieren? „Reist ab oder sagt ja, Ihr seid in Lebensgefahr!“ warnen die Kollegen von der Zentrumspartei.

Die SPD-Abgeordneten entscheiden anders: Die Welt soll hören, dass die Nazis nicht für Deutschland stehen, dass es noch Demokraten gibt in diesem Land! Otto Wels geht ans Rednerpult, mit fester Stimme betont er, dass sich die deutsche Sozial-demokratie zu Menschlichkeit und Gerechtigkeit, zu Freiheit und zu Demokratie bekennt. „Kein Ermächtigungsgesetz,“ sagt er Hitler ins Gesicht, „gibt Ihnen die Macht, diese Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“

Dieser letzte und verzweifelte Versuch, sich gegen die Abschaffung des Parlaments zu stemmen, mag gescheitert sein. Aber Otto Wels hat mit dieser Rede, so hat Heinrich August Winkler einmal geschrieben, „nicht nur die Ehre der Sozialdemokratie, sondern der deutschen Demokratie überhaupt“ gerettet.

Meine Damen und Herren,
Solche Momente sind Sternstunden unserer Parteigeschichte und gleichzeitig Sternstunden der deutschen Demokratie. Es waren nicht die letzten – denken wir nur an Willy Brandts Regierungs-erklärung mit seiner fast provozierenden Ankündigung: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an“.

Es liegt im Wesen von Sternstunden, dass sie nicht an der Tagesordnung sind. Und sie schützen nicht vor Irrtümern, von denen wir auch nicht frei waren. Aber an den Weichenstellungen der letzten 150 Jahre deutscher Geschichte und immer dann, wenn Demokratie bedroht war, hat die SPD auf der richtigen Seite gestanden.

Diese Geschichte ist uns allen, die wir heute für die SPD Politik machen, gegenwärtig. Wir sehen die tiefen Spuren, die unsere Vorgänger in 150 Jahren geprägt haben. Und wir fühlen uns als Teil dieser Geschichte. Niemand von uns muss heute, wenn er Politik macht, um Leib und Leben fürchten. Aber in einer Bewährungsprobe der Demokratie befinden wir uns wieder einmal! Nicht von Autokraten und Diktatoren ist sie auf die Probe gestellt, aber doch von einer europäischen Krise, die das Vertrauen in Politik zunehmend erschüttert. Vertrauen in Wirtschaft, Märkte und Akteure, Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Regierungen, aber nicht nur. Erschüttert wird auch das Vertrauen in unser parlamentarisches System.

Zum Glück ist das deutsche Parlament bisher eines der wenigen in Europa, das sich über die Euro-rettung noch nicht komplett zerlegt hat. Und es ist die gemeinsame Aufgabe aller Parteien, nicht nur die europäische Krise zu lösen, sondern gleichzeitig und fortdauernd die Rolle des Parlaments zu stärken, hier in Deutschland wie in Europa. Aber trotz dieser gemeinsamen Verpflichtung bin ich wohl nicht der Einzige, wenn ich die SPD da in einer besonderen Verantwortung sehe.

Die Sozialdemokratie hatte im Laufe unserer Geschichte immer wieder den Kraft und den Mut, die Demokratie voranzubringen. Sozialdemokraten waren Demokraten, bevor Deutschland demokratisch wurde. Jetzt, wo es darum geht, Europa demokratischer zu machen, sind wir wieder gefragt. Stellen wir uns der Verantwortung!

Herzlichen Dank.