SPIEGEL: Herr Steinmeier, wer macht die bessere Oppositionspolitik gegen Angela Merkel: Sie oder Frankreichs neuer Präsident François Hollande?
Steinmeier: François Hollande ist französischer Präsident. Ich bin deutscher Oppositionsführer. Und ich weiß, was ich will: die Ablösung von Frau Merkel und ihrer Regierung. Diesem Ziel sind wir in den letzten Wochen deutlich nähergekommen.
SPIEGEL: Hollande piesackt Merkel, indem er Wachstumspakete fordert, Euro-Bonds einführen und die französischen Soldaten schon bis Ende des Jahres aus Afghanistan abziehen will. Da zeigt er deutlich klarere Kante als Sie.
Steinmeier: Das ist Unfug. Aber ich verstehe Ihre Begeisterung für Hollande, denn seine Forderungen nach einer europäischen Wachstumsinitiative stimmen zum Großteil mit unseren überein. Was den Afghanistan-Abzug angeht, war mein Grundsatz immer: gemeinsam rein, gemeinsam raus. Deshalb habe ich auch stets vor deutschen Alleingängen gewarnt.
SPIEGEL: Hollande sollte seine Haltung also noch mal überdenken?
Steinmeier: Ich habe dem französischen Staatspräsidenten keine Empfehlungen zu geben. Klar ist, dass der Afghanistan-Einsatz zu Ende gehen muss. Ausländische Streitkräfte, auch die deutschen, müssen das Land verlassen – und zwar bis Ende 2014.
SPIEGEL: Sie wollen also mal wieder exakt das, was die Regierung auch will.
Steinmeier: Sie wissen selbst, dass das Unsinn ist. Es war doch umgekehrt. Die SPD hat doch erst das Konzept für die Beendigung des Einsatzes entworfen. Merkel und die Union haben uns drei Monate dafür beschimpft, um es anschließend abzukupfern. Wie so vieles übrigens.
SPIEGEL: Und die Euro-Bonds? Die haben Sie früher lautstark gefordert, jetzt sind Sie still und heimlich davon abgerückt.
Steinmeier: Warum schauen Sie nicht einfach mal in die Interviews, die Sie selbst mit mir geführt haben? Dort können Sie meine Auffassung lesen, dass Euro-Bonds nur dann machbar sind, wenn sie mit harten Bedingungen verbunden sind und wir eine harmonisierte europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik haben. Im Übrigen gibt sich inzwischen ja selbst der FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle offen für Euro-Bonds.
SPIEGEL: Umso verwunderlicher, dass Sie bei dem Thema so zaghaft klingen.
Steinmeier: Das tue ich nicht. Ich weise nur darauf hin, dass erst die Bedingungen geschaffen werden müssen. Dann muss geklärt werden, worüber wir reden. Mit der Überschrift Euro-Bonds können ganz unterschiedliche Dinge gemeint sein.
SPIEGEL: Was sollte man in der Zwischenzeit tun?
Steinmeier: Mittelfristig bin ich dafür, dass wir uns dem Modell nähern, das der Sachverständigenrat vor einiger Zeit vorgelegt hat. Er schlägt vor, einen Europäischen Schuldentilgungsfonds einzurichten, weil ohne einen Umgang mit Altschulden für viele Länder kein Ausweg aus der Verschuldungskrise zu organisieren ist. Zwar bliebe jedes Land dazu verpflichtet, seine eigenen Schulden zu tilgen. Aber der gemeinsame Zinssatz würde deutlich unter den üblichen Sätzen für stark verschuldete Länder liegen. Dadurch wäre es solchen Ländern überhaupt erst möglich, mit der Tilgung ihrer Schulden zu beginnen.
SPIEGEL: Sind Sie harmoniesüchtig?
Steinmeier: Säße ich dann mit Ihnen an einem Tisch? Aber im Ernst: Wer 24 Stunden am Tag Harmonie braucht, geht nicht ins politische Geschäft.
SPIEGEL: Dann fragen wir uns, warum Sie die Europapolitik der Kanzlerin immer wieder für falsch erklären, am Ende aber doch stets zustimmen.
Steinmeier: Ich führe eine Opposition, die sich auf Regierungsverantwortung vorbereitet. Und es gibt weder ein schwarz-gelbes noch ein rot-grünes Europa. Stattdessen müssen wir dafür Sorge tragen, dass Europa in seiner heutigen Form überhaupt noch besteht, wenn wir 2013 die Regierung übernehmen. Also müssen wir als Opposition versuchen, die Fehler der Bundesregierung zu korrigieren, wo immer es geht. Deshalb fordern wir, dass die europäische Sparpolitik um Wachstumspolitik ergänzt wird und es endlich zu einer Besteuerung der Finanzmärkte kommt.
SPIEGEL: Um den Fiskalpakt und damit die europäische Schuldenbremse durch das Parlament zu bringen, braucht die Kanzlerin die Stimmen der SPD. Lehnen Sie ab, wenn Ihre Forderungen nicht erfüllt werden?
Steinmeier: Ich garantiere Ihnen, dass es keinen Fiskalpakt ohne ergänzende Wachstumselemente geben wird. Wenn nicht, wird es keine Zustimmung der SPD geben. Weitere Bedingungen sind, dass die Besorgnisse der Bundesländer ausgeräumt werden und die Frage der parlamentarischen Beteiligung geklärt wird.
SPIEGEL: Von Wachstum sprechen inzwischen alle, es ist also nicht besonders mutig, das zu fordern. Welche Bedingungen müssen zwingend erfüllt sein?
Steinmeier: Ohne eine Besteuerung der Finanzmärkte, ohne eine Stärkung der Investitionskraft und ohne eine Ausweitung des Kreditvolumens der Europäischen Investitionsbank wird die SPD den Weg der Bundesregierung nicht mitgehen. So werden das im Übrigen viele europäische Regierungen halten.
SPIEGEL: Genau diese Art von Junktim haben Sie bislang immer abgelehnt.
Steinmeier: Ich habe in meinem Leben mehr als eine schwere Verhandlung geführt. Und ich weiß: Das Junktim bindet nur den, der es aufstellt. Mir war von Anfang an klar, dass wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen mit der Bundesregierung verhandeln müssen, um Europa aus der Sackgasse zu führen. Das ist meine Art, Politik zu machen. Entscheidend ist, was hinten rauskommt.
SPIEGEL: Eine Finanztransaktionsteuer fordert inzwischen selbst der bayerische CSU-Finanzminister Markus Söder. Werden Sie da gerade von links überholt?
Steinmeier: Wir freuen uns über jeden, der dazulernt.
SPIEGEL: Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass Ihre Forderungen nach einer Wachstumsinitiative bei den Wählern ?ankommen? Denen ist doch klar, dass im Zweifel Deutschland zahlen muss.
Steinmeier: Die SPD ist nicht die Linkspartei, die sich auf die Marktplätze stellt und den Menschen vormacht, Manna regnet vom Himmel. Ich muss den Deutschen erklären, dass es ihnen auch deshalb gutgeht, weil in Frankreich, Spanien und Italien Autos und Maschinen aus Deutschland gekauft werden. Deutsche Arbeitsplätze werden davon abhängen, ob es uns gelingt, unsere europäische Nachbarschaft wieder ins wirtschaftliche Gleichgewicht zu bringen. Auf Dauer kann es uns nicht gutgehen, wenn es dem Rest Europas schlechtgeht. Deshalb haben wir eine Verantwortung, Europa aus der Krise zu führen.
SPIEGEL: Statt Geld auszugeben, sind Sie in Deutschland einst den umgekehrten Weg gegangen. Sie gelten als Erfinder der Agenda 2010, mit deren harten Einschnitten Sie die Sozialsysteme saniert haben.
Steinmeier: Das ist eine Legende, die leider immer wieder falsch weitergetragen wird.
SPIEGEL: Es gab keine Einschnitte?
Steinmeier: Natürlich gab es die. Und keiner hat den Streit darüber besser in Erinnerung als ich. Aber wenn in der Rückschau von heute unsere Politik erfolgreich war, dann doch, weil wir genau diesen Dreiklang aus Einsparungen, Strukturreformen und Erhalt von Wachstumskräften hinbekommen haben, um den es jetzt auch wieder geht. Neben den Einschnitten haben wir damals massiv investiert. Beispielsweise sind vier Milliarden in den Ausbau der Ganztagsschulen geflossen.
SPIEGEL: Neulich hat die Bundestagsfraktion sich offen gegen Sie gestellt. Sie wollten, dass die Abgeordneten sich bei der Abstimmung über die Anti-Piraterie-Mission Atalanta enthalten, die Fraktion entschied sich aber für die Ablehnung. Haben Sie Ihre Mannschaft noch im Griff?
Steinmeier: Ich verliere nicht gern, weder Abstimmungen über Sachfragen noch Wahlen. Aber Niederlagen gehören im politischen Leben dazu. Wenn so etwas passiert, muss man eben in Zukunft darauf achten, dass es die Ausnahme bleibt.
SPIEGEL: Was haben Sie falsch gemacht?
Steinmeier: Die europäischen Themen dominieren die Tagesordnung. Sie nehmen leider die Zeit in Anspruch, die wir für die Beratung anderer, nicht weniger wichtiger Themen dringend brauchen. Wir hätten der Debatte über das Mandat zum Auslandseinsatz mehr Raum geben müssen.
SPIEGEL: Und wenn es wieder passiert?
Steinmeier: Das liegt doch weit hinter uns. Glauben Sie ernsthaft, dass ich hier in ?öffentliche Drohgebärden gegen meine Fraktion verfalle?
SPIEGEL: Bei der Abstimmung brach sich offensichtlich der Wunsch vieler Abgeordneter Bahn, klare Kante zu zeigen.
Steinmeier: Daran ist kein Abgeordneter an irgendeinem Tag in der Woche gehindert. Die Bundesregierung bietet dazu auch ausreichend Gelegenheit.
SPIEGEL: Ihr Parteichef Sigmar Gabriel hat weniger Probleme mit direkter Konfrontation. Wäre er der bessere Oppositionsführer?
Steinmeier: Politik lebt doch von unterschiedlichen Typen. Sigmar Gabriel hat seine Aufgabe als Parteivorsitzender, die macht er gut. Und ich mache meine als Fraktionsvorsitzender vielleicht auch nicht ganz schlecht. Gemeinsam sind wir mit der SPD ein gutes Stück nach vorn gekommen.
SPIEGEL: Hinzu kommt noch Peer Steinbrück, der als einfacher Bundestagsabgeordneter zur Troika der möglichen SPD-Kanzlerkandidaten zählt. Haben Sie den Eindruck, das Format funktioniert noch?
Steinmeier: Ich verstehe ja, dass Journalisten die SPD zu einer schnellen Entscheidung drängen wollen. Aber es sind noch immer anderthalb Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl. Es reicht, wenn wir den Kandidaten nach der niedersächsischen Landtagswahl im Januar küren. Das ist dann immer noch fast ein Dreivierteljahr bis zur Wahl.
SPIEGEL: Aber die Idee hinter der Troika, die Partei durch einen Wettstreit von drei Kandidaten interessant zu machen und im Gespräch zu halten, wirkt inzwischen ziemlich überholt. Wie soll das erst in acht Monaten sein?
Steinmeier: Ich habe eher den Eindruck, dass die SPD die Menschen zunehmend interessiert. Wir sind jetzt bei der elften Landtagswahl in Folge in Regierungsverantwortung gewählt worden. Im Januar in Niedersachsen machen wir das Dutzend voll. Im Übrigen kann ich Ihnen versichern, dass wir in acht Monaten einen Kandidaten haben werden, der die SPD ins Kanzleramt führt. Bis dahin werden wir weiterhin fair miteinander umgehen.
SPIEGEL: Jetzt rufen die ersten Genossen nach der nordrhein-westfälischen Wahlsiegerin Hannelore Kraft: Sie sei die beste Kanzlerkandidatin.
Steinmeier: Ich glaube nicht, dass diejenigen, die diese Debatte führen, Hannelore Kraft einen Gefallen tun. Sie hat sich öffentlich zu ihrer Rolle in der Politik geäußert, und ich habe den Eindruck, das sollten wir ernst nehmen. Gleichwohl zeigt diese Diskussion, was der Union im Gegensatz zu uns fehlt: eine Riege von starken Ministerpräsidenten und Persönlichkeiten, die in der Lage sind, Regierungsverantwortung zu übernehmen.
SPIEGEL: Was kann die SPD von Frau Kraft lernen?
Steinmeier: Ganz viel. Hannelore Kraft verzichtet auf Glanz und Glamour, nimmt aber die Sorgen und Nöte der Menschen ernst. Wenn man mit ihr im Wahlkampf unterwegs war, hat man gespürt, dass die Leute keine Schwellenangst hatten. Die Menschen kommen vorbehaltlos auf sie zu, klopfen ihr auf die Schulter und wollen ein persönliches Wort mit ihr reden. Da ist keine Distanz zu spüren, und das ist bemerkenswert.
SPIEGEL: Damit hat sie eine klare Mehrheit für Rot-Grün geholt. Davon können Sie im Bund derzeit nur träumen. Warum verabschieden Sie sich nicht von der Illusion einer rot-grünen Neuauflage und öffnen sich? Zur FDP zum Beispiel?
Steinmeier: Ich glaube, Sie hinken dem Zeitgeist etwas hinterher. Es ist doch offensichtlich, dass Merkels Zeit zu Ende geht. Sie hat 2013 keinen Koalitionspartner mehr, sie hat keine Ideen, wie es mit dem Land weitergehen soll, und auf der Einwechselbank ihrer Regierungsmannschaft sitzt auch niemand mehr. Wir brauchen in Deutschland keine Regierung für Stillstand und Hader, sondern eine Koalition für Aufbruch und Veränderung. Das sind ja keine einfachen Zeiten, die auf uns zukommen. Deshalb sind Sozialdemokraten und Grüne eine gute Perspektive.
SPIEGEL: Oskar Lafontaine hat auf den Vorsitz der Linkspartei verzichtet, damit entfällt ein wesentlicher Grund, den die SPD immer gegen Bündnisse mit den Linken ins Feld geführt hat. Ist Rot-Rot-Grün jetzt möglich?
Steinmeier: Die Linkspartei spielt in unseren Plänen keine Rolle. Es steht doch in den Sternen, ob sie dem nächsten Bundestag überhaupt angehört. Und solange sich die inhaltlichen Positionen nicht ändern, kommen wir sowieso nicht zusammen. Wir kämpfen für Rot-Grün.
SPIEGEL: Sollte die SPD jetzt mit einem dezidiert linken Kanzlerkandidaten antreten, um Linken-Wähler einzusammeln?
Steinmeier: Ganz bestimmt wird sich die SPD in Programm und im Personal nicht an einer völlig ruinierten Linkspartei und ihrem Schicksal ausrichten.
SPIEGEL: Aber sie muss überlegen, wie sie enttäuschte Linken-Anhänger locken kann. Wäre dafür nicht Sigmar Gabriel am besten geeignet?
Steinmeier: Ich weiß nicht, ob Sigmar Gabriel sich über diese Einschätzung von Ihnen wirklich freut.