Kann sich die SPD die Ablehnung von Steuersenkungen bei den Wählern leisten?
Der kluge Johannes Rau hat gesagt: Politik muss sagen, was ist. Nach dem jüngsten Koalitionsgipfel muss allen klar sein - hier ging es nicht darum, das Land nach vorne zu bringen. Sondern es ging darum eine in sich zerstrittene Koalition zu befrieden und die siechende FDP heil über ihren Parteitag zu bringen. Dafür sind sechs Milliarden Euro Steuergeld aber ein sehr hoher Preis. Und es ist nicht Aufgabe der Opposition, das auch noch abzusegnen.
Die FDP wirft Ihnen Blockade aus ideologischen Gründen vor ...
CDU-Finanzminister Schäuble hat bisher immer zu Recht gesagt: Oberste Priorität muss die Rückführung der Neuverschuldung haben. Jeder finanzielle Spielraum sei dafür zu nutzen. Jetzt wurden einfach mal die Prioritäten umgedreht, um der FDP eine Vitaminspritze zu geben. Schäuble´s Grundsätze wurden wie auf einem Basar verhökert. Ich finde nicht, dass ausgerechnet wir uns das vorwerfen lassen müssen.
Die Regierung nennt die geplante Sechs-Milliarden-Entlastung einen großen Wurf, Ihr Parteikollege Kurt Beck Volksverdummung ...
Und Beck hat Recht. Die Entlastung für Geringverdiener soll bei 1,41 Euro im Monat liegen. Das hilft doch niemandem weiter. FDP-Chef Rösler kann einem schon fast leid tun. Da verspricht er bei seiner Wahl zum Parteichef, jetzt endlich zu liefern. Und womit kommt er nach Hause? Mit einem abgenagten Knochen, der die eigene Klientel wohl kaum befriedigt, keinen konjunkturellen Effekt haben wird und nur Geld kostet, dass man besser für sinnvollere Dinge verwendet hätte.“
Ab einem Jahresbrutto von 54 000 Euro spart ein Steuerzahler ab 2013 etwa 116 Euro jährlich, ein Geringverdiener mit 10 000 Euro Jahresgehalt nur 19 Euro. Das sagt der Steuerzahlerbund…
Das verletzt in eklatanter Weise jedes Gespür für Gerechtigkeit. Das wundert mich aber bei dieser Regierung nicht. Alle Einsparungen gingen bisher auf Kosten von Arbeitssuchenden und sozial Schwachen. Gerechtigkeit im Steuersystem ist ihr auch schnurzpiepegal.
Durchschnittsverdiener werden um 20 bis 25 Euro im Monat entlastet, müssen aber höhere Pflegebeiträge zahlen. ...
Dass wir etwas tun müssen zur Absicherung der Pflege, ist unbestritten. Aber an dieser Stelle offenbart sich der ganze Unsinn der Koalitionsrunde: Man senkt kaum spürbar Steuern, um sich bei der Pflege über Beitragserhöhungen einen Teil des Geldes gleich wieder zurück zu holen. Das ist ziemlich einfallslos und mager. Gelöst sind die Zukunftsaufgaben der Pflege damit nicht ansatzweise. Das Problem wird auf die Zukunft vertagt.
CDU-Chefin Merkel hat der SPD mit dem Mindestlohn ein wichtiges Thema geraubt...
Das ist wieder mal die Anwendung des Merkelschen Gesetzes. Das lautet: Wenn Angela Merkel etwas sehr heftig dementiert, dann weiß man sicher, dass es bald kommt. Es ist gut, dass man nach heftigem Streit auch in der CDU zu der Überzeugung gelangt: Es geht nicht ohne Mindestlohn. Ob dies auch die Haltung der Regierung wird, da bin ich sehr gespannt.
Stichwort Schuldenkrise: Griechenland trudelt, der Euro wankt. Ist Europa noch zu retten?
Europa ist zweifellos in der schwersten Krise seit Beginn. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es im Interesse unseres Landes ist, Europa zu retten. Dieses Europa hat uns Frieden und Wohlstand gebracht und den Weg zur deutschen Einheit geebnet. Das darf nicht in Vergessenheit geraten in den Turbulenzen auf den Märkten und im täglichen Ringen um die Wiedergewinnung von Stabilität. Der Weg, den wir vor uns haben, wird vielleicht zehn Jahre dauern. Aber in der Konkurrenz zu den neuen Wirtschaftsmächten China, Brasilien oder Indien werden wir nur eine Rolle spielen, wenn wir zusammen bleiben und mit der ganzen Bedeutung dieses Kontinents antreten.
Notkabinett in Athen, eine abgehalfterte Regierung in Italien. Übernehmen zunehmend EU-Treuhänder das politische Geschäft?
Das kann nicht die Zukunft von Demokratien in der EU sein, demokratisch verfasste Staaten müssen selbst handlungsfähig bleiben. Wer aber auf Hilfe angewiesen ist, wird übergangsweise damit leben müssen, dass die Hilfen an Bedingungen geknüpft werden. Italien ist ein ganz anderer Fall: Anders als Griechenland hat Italien nach wie vor eine leistungsfähige Industrie. Verlorenes Vertrauen hat in Italien einen Namen: Berlusconi. Wenn er nun endlich geht, ist noch nicht garantiert, dass Spekulanten die Wetten gegen Italien beenden. Aber würde Berlusconi bleiben, dann wäre sicher, dass es weitergeht – mit noch höheren Wetteinsätzen und zwar aufs Ganze!
Die Europäerin Merkel habe ihr Rendezvous mit der Geschichte versemmelt. Das sagte letztes Jahr Ex-Außenminister Joschka Fischer. Muss dieses Urteil heute revidiert werden?
Nein. Es ist wie im wirklichen Leben. Wer beim Rendezvous laufend zu spät kommt, darf sich nicht wundern, wenn die Zuneigung beim Partner verblüht. Und Angela Merkel ist in den letzten 18 Monaten in der Europa-Politik laufend zu spät gekommen.