SZ: Herr Steinmeier, wann sind Sie am Abend vor der Agenda-Rede ins Bett?

Steinmeier: Gar nicht so spät. Es dürfte kurz nach Mitternacht gewesen sein. Die Arbeit war getan. Der Bundeskanzler hat die Rede nach Hause mitgenommen, um sie in eine letzte Fassung zu bringen.

Hat er noch viel verändert?

Eine alte Erfahrung: Reden wachsen im Entstehungsprozess oft über das zumutbare Maß hinaus. So auch hier. Die Botschaften mussten wieder schärfer werden. Gerhard Schröder hat die Rede selbst erheblich gekürzt und ihr mehr Kontur gegeben.

Hat das der Rede genützt?
Ja. Schröder hat richtig gesehen, dass sich das Schicksal der Agenda nicht in erster Linie an ihrer Kommunikation entscheiden würde, sondern an der Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen. Die Auseinandersetzung wäre nicht leichter geworden, wenn die Rede noch zehn oder 20 Minuten länger gedauert hätte.

Wo waren Sie während der Rede?
Im Kanzleramt vor dem Fernseher.

Mulmiges Gefühl?
Natürlich auch. Denn die Tragweite der Entscheidung war uns bewusst. Wir wollten das Land zum Besseren verändern, aber dass der Plan aufgehen würde, war nicht garantiert! Uns war klar, dass es heftigen Streit geben würde. Das war ja schon im Entstehungsprozess so. Aber schwerwiegender war das Bewusstsein der Verantwortung, die wir da auf uns nahmen; vor allem Gerhard Schröder selbst.

Die Oppositionsführerin Angela Merkel hat auf Schröder mit dem Satz geantwortet: „Der große Wurf war das nicht.“
(lacht) Wenn man sich die Bilanz ihrer Regierung heute anschaut, ist das doppelt dreist. Und wenn Schröder damals so mutlos regiert hätte wie Angela Merkel heute, stünden wir jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größeren Problemen inmitten der Eurokrise. Schröders Bilanz wird im Abstand von zehn Jahren mit Respekt beschrieben. Ob das in zehn Jahren auch die Bewertung von Merkels Bilanz sein wird, bezweifle ich.

Aber auch viele Beobachter, die eine Blut, Schweiß und Tränen-Rede erwartet hatten, waren eher enttäuscht.
Das erklärt sich aus der Atmosphäre dieser Zeit. Aus dem Kinderglauben unzähliger Ruck-Reden und naseweisen Politikratgebern, die auch meine Regale füllten. Ich hielt das immer für unpolitisch. Wir haben Koalitionen, wir haben ein föderales System mit unterschiedlichen, aber verschränkten Zuständigkeiten. Unsere verfassungsmäßige Ordnung steht - übrigens mit gutem Grund - den einfach erscheinenden Durchregieren-Lösungen entgegen.

Deutschland galt als kranker Mann Europas, quasi schon im Todeskampf.
Das habe ich immer für falsch gehalten, weil es die Chancen und Potenziale dieses Landes ignoriert hat. Richtig ist aber, dass wir uns zu lange haben blenden lassen, zuerst von der Sonderkonjunktur aus der deutschen Einheit und später von der Geldschöpfmaschine der neuen Märkte, dieser gewaltigen Blase, die dann geplatzt ist. Erst danach traten die vorhandenen Schwächen der Wettbewerbsfähigkeit in aller Brutalität zutage, die sich über Jahre potenziert hatten. Wir waren Schlusslicht der europäischen Wachstumstabelle und die Arbeitslosigkeit stieg jedes Jahr um Hunderttausende. Deshalb mussten wir handeln.

Schröder hat später sinngemäß gesagt, der Druck habe erst ein bestimmtes Maß erreichen müssen, um Reformen durchsetzbar zu machen. Teilen Sie das?
Das stimmt, aber es stimmt auch für die politische Klasse. Dort sind die Beharrungskräfte nach meiner Erfahrung nicht kleiner als in der Bevölkerung.

Es drohte Handlungsunfähigkeit?
Ja, gleich doppelt. Erstens weil Spielräume für eine gestaltende Politik erschöpft waren. Zweitens, weil wir im Bündnis für Arbeit - im versuchten Konsens zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Politik - nicht weiterkamen. Beides zusammen hat einen neuen politischen Weg erzwungen.

Sind Sie heute stolz auf die Agenda?
Ich weiß, dass die Entscheidungen schmerzhafte Einschnitte für viele waren. Und ich habe nicht vergessen, wie viele Verwerfungen sie für die SPD mit sich gebracht haben. Deshalb verbietet sich jeder geschönte Rückblick auf das eigene Tun. Aber ich bin stolz auf meine Partei, die Verantwortung für unser Land übernommen hat. Und es mag komisch klingen, aber ich bin auch stolz auf die Debatten und den Streit, die wir über die Ausrichtung der Agenda geführt haben.

Wie bitte? Die Partei ist daran fast zerbrochen.
Ich sage ja, es war hart. Aber wir hatten nicht nur die Kraft das wohl tiefgreifendste und erfolgreichste wirtschaftliche Reformprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg zu bringen, wir haben auch nie aufgehört, um die beste Lösung zu ringen. Und alle, die immer noch zweifeln, sollen sich einmal in Europa umschauen! Wo stünden wir wohl heute, wenn wir damals nicht gehandelt hätten?

Was war der größte Erfolg der Agenda?
Sie war der Ausbruch aus der Abwärtsspirale. Sie hat den dauernden Anstieg der Arbeitslosigkeit gestoppt und umgekehrt. Sie hat geholfen die Zahl der Beschäftigten auf heute 41 Millionen zu erhöhen. Mehr denn je. Weniger Arbeitslose, mehr Beitragszahler - das hat die sozialen Sicherungssysteme stabilisiert und Spielräume für Zukunftsinvestitionen in Wachstum, Bildung und Innovation geschaffen.

Und der größte Misserfolg?
Sicher der Missbrauch, der bei der Leiharbeit entstanden ist. Mehr Flexibilität in der Arbeitszeit war notwendig, aber wir haben uns in der Tat nicht vorstellen können, dass einzelne Unternehmen große Teile ihrer Stammbelegschaften durch Leiharbeiter ersetzen. Das muss korrigiert werden.

Beschäftigungszuwachs hat vor allem im Niedriglohnbereich stattgefunden.
Wir haben einen deutlichen Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Aber richtig ist natürlich, dass die Ausweitung des Beschäftigungsvolumens nicht gänzlich in Vollzeitstellen gegangen ist, sondern Teilzeit und befristete Beschäftigung im Vergleich stärker gewachsen sind.

Moment: Sie sagen, der Erfolg der Agenda zeige sich auf dem Arbeitsmarkt. Der Kanzlerkandidat führt aber Wahlkampf mit der Klage über acht Millionen prekär Beschäftigte. Was stimmt denn nun?
Die Wahrheit ist: Seit die Agenda wirkt, ist die Arbeitslosigkeit zeitweise um über zwei Millionen zurückgegangen. Aber die Arbeit ist deshalb nicht erledigt. Der Missbrauch bei der Leiharbeit muss beendet werden, wir müssen dafür sorgen, dass die, die Arbeit haben, auch ordentlich bezahlt werden. Dafür brauchen wir nicht nur Mindestlöhne, sondern vor allem auch ordentliche Tariflöhne und die Wiederherstellung der Tarifeinheit.

Ein weiterer Vorwurf lautet, dass Schröder gesagt hat, „alle Kräfte der Gesellschaft" müssten ihren Beitrag leisten, später aber nur Arbeitnehmer und sozial Schwache Opfer bringen mussten.
Die Bewertung wäre sicher eine andere gewesen, wenn wir den Mindestlohn zeitgleich mit dem Reformpaket auf den Weg gebracht hätten. Das hätte dem Gesamtpaket eine stärkere soziale Balance gegeben. Das wäre immens wichtig und richtig gewesen. Außerdem wird zu häufig vergessen, dass die Agenda nicht nur Ausgabendisziplin und Strukturreformen war, sondern auch Maßnahmen für Bildung und Wachstum.

Schröder hat am 14. März auch eine Lockerung des Euro-Stabilitätspaktes angekündigt - war das nicht die Ur-Sünde, die zu neuer Verschuldung und schließlich zur Euro-Krise geführt hat?
Das sagen Union und FDP. Die haben bis heute nicht verstanden, was damals wirklich stattgefunden hat. Dass es nämlich die Strukturreformen der Agenda ohne diese Flexibilität nicht gegeben hätte. Ja, wir haben uns Zeit zum Atmen gekauft, um die Reformen auf den Weg zu bringen und den Zeitpunkt zu erreichen, an dem sie wirken. Und zugleich haben wir mit der Schuldenbremse einen Pfeiler des Stabilitätspaktes auch in unserer Verfassung verankert.

Sie fordern auch in der Euro-Krise, Sparen und Reformen mit Wachstumsimpulsen zu begleiten. Ist das unter den heutigen Bedingungen überhaupt möglich?
Ich sage das aus unserer Erfahrung heraus, dass Reformen ihre Zeit brauchen, um zu wirken. Da reden wir eher von Jahren als von Monaten. Wenn man nur auf wachstumshemmende Sparprogramme setzt, würgt man nicht nur den Effekt der Reformen ab, sondern auch die Reformbereitschaft der Menschen.

Wie lebt es sich eigentlich mit dem Image, der letzte Dino in der SPD zu sein, der die Agenda offensiv verteidigt?
Ich glaube, sie unterschätzen die SPD.

Der Kanzlerkandidat hat das Wort in seiner Nominierungsrede nicht einmal in den Mund genommen und den Reformen gerade mal drei Sätze geopfert.
Peer Steinbrück gibt Antworten auf die Probleme von Morgen, und muss nicht neue Antworten auf alte Fragen suchen.

Stellen wir uns vor, Schröder wäre noch Kanzler, käme zu seinem Kanzleramtschef und sagte: Mach ma' 'ne neue Agenda. Was wäre Ihr Leitgedanke?
Bildung ist der Schlüssel für eine gute Zukunft. Wenn im vergangenen Jahrzehnt die hohe Arbeitslosigkeit Bedrohung für Wachstum, Sozialstaat und am Ende das Glück der Menschen war, dann ist es im nächsten Jahrzehnt wahrscheinlich das Gegenteil. Wenn wir nicht handeln, wird das zentrale Problem der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften sein, der sich jetzt schon mancherorts abzeichnet. Um dies zu verhindern, muss man zwei gegensätzliche Ziele in Einklang bringen: die Konsolidierung der Haushalte bei gleichzeitig wachsenden Investitionen in Bildung und Ausbildung. Wir dürfen keinen jungen Menschen am Wegesrand zurücklassen und müssen die Zahl der Schulabbrecher drastisch reduzieren, jeder muss mindestens eine Berufsausbildung absolvieren können und insbesondere die Kinder von Zuwanderern müssen besser integriert und gefördert werden.

Beneiden Sie Schröder darum, dass er sich überall feiern lassen kann, während Sie nachdenkliche Interviews geben müssen?
Er hat die Last der Entscheidung zu tragen gehabt. Er hat einige Jahre viel riskiert, vielÄrger und Unverständnis ertragen müssen. Ich finde, es ist ihm zu gönnen, dass auch viele von denen, die ihn damals angefeindet haben, heute einen anderen Blick haben.