Frank-Walter Steinmeier warf der Bundeskanzlerin in seiner Rede vor, dass der Eindruck entstanden sei, dass sie bei jeder schwierigen Entscheidung, die zu fällen war, im Grunde genommen zum Jagen getragen werden musste. Das wirkt ratlos; das wirkt kraftlos.

 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!

Über einen Mangel an Regierungserklärungen kann sich die Opposition in diesen Tagen nicht beklagen.

Das Problem ist nur - da mögen sich Bundeskanzlerin und Vizekanzler in Blazer und Krawatte noch so sorgfältig abstimmen - : Hinterher weiß man nicht recht, was erklärt worden ist. Mir ist es jedenfalls nach der letzten Regierungserklärung, Frau Bundeskanzlerin, nicht ganz klar geworden, an welcher Stelle Sie in Ihrer Regierungserklärung um die Mehrheit in diesem Hause geworben haben.

Heute bin ich mir bei manchen Passagen Ihrer Regierungserklärung vorgekommen wie im falschen Film. Ich kritisiere niemanden, der Einsicht zeigt - auch wenn Sie die Regierungsfraktionen bei der Frage, ob Lehren aus der Finanzkrise gezogen werden sollen, erst zum Beifall auffordern mussten - ; aber vielleicht können Sie nachvollziehen, dass das für die Opposition schwer auszuhalten ist: Wir haben vor zwei Wochen in diesem Hause gefordert, dass die Bewältigung der Finanzkrise nicht allein auf den Schultern der kleinen Leute abgeladen wird und dass die Finanzbranche einen substanziellen Beitrag zur Bewältigung der Kosten zu leisten hat. Sie haben uns von diesem Pult aus   und in den Tagen danach Ihre Matadore aus den Regierungsfraktionen   Naivität und auch Unverstand vorgeworfen, und heute, zwei Wochen später, tun Sie so, als wären unsere Forderungen nahezu das Selbstverständlichste von der Welt. Ich ahne schon, dass Sie, wenn Sie am Freitag hier reden, am Ende so tun werden, als wären sie von Ihnen erfunden worden. Das zieht einem die Schuhe aus, meine Damen und Herren.

Nun könnte ich es mir als Vertreter der Opposition leicht machen und mit Blick auf das, was Sie eben zu den Finanzmärkten und dem von ihnen zu leistenden Beitrag gesagt haben, sagen: Besser spät als nie.

Ich weiß, dass das wehtut. Aber was wir in den letzten sieben Monaten von dieser Regierung erlebt haben, lässt kaum jemanden in Deutschland ruhig schlafen. Der Verdacht, den wir anfangs geäußert hatten, wird von Tag zu Tag zur Gewissheit, nämlich dass diese Regierung weder Linie noch Richtung und vor allen Dingen keinen Mut hat. Das kann nicht so weitergehen in Deutschland, nicht in dieser schwierigen Situation, in der wir sind.

Frau Bundeskanzlerin, aus den letzten Wochen bleibt der Eindruck, dass auch Sie selbst bei jeder der schwierigen Entscheidungen, die zu fällen waren, im Grunde genommen zum Jagen getragen werden mussten, am Ende sogar, wie wir heute gemerkt haben, von der eigenen Partei. Das wirkt ratlos; das wirkt kraftlos. Mitten in einer Krise, die der Präsident der EZB vor kurzem als die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet hat, wirken Sie selbst eher wie eine Getriebene, wie eine Getriebene der Märkte, wie eine Getriebene von Europa, wie eine Getriebene von der FDP und am Ende sogar wie eine Getriebene von der eigenen Partei. Das könnte einer Opposition egal sein. Aber so kommen wir aus der Krise nicht heraus. Das ist dramatisch für unser Land.

Wir kommen so nicht nur nicht heraus; das ist nicht allein das Problem. Vielmehr haben wir in den letzten Wochen gesehen, dass man auf diese Weise noch tiefer in die Krise hineingeraten kann. Herumlavieren, wie wir es erlebt haben   darüber haben wir auch kritisch diskutiert  , das Taktieren mit Wahlterminen, mit dem in Nordrhein-Westfalen, das alles hat uns doch in Wahrheit in Europa ein Stückchen tiefer in die Krise hineingetragen.

Jeder Ökonom - auch der von Ihnen so sehr geschätzte IWF erst am letzten Wochenende - sagt Ihnen, früheres Handeln hätte ein Übergreifen der Krise auf die Nachbarstaaten verhindert. Sie haben seit fünf Wochen nichts getan, geleugnet und verschleppt. Das ist der Fehler, den wir Ihnen vorwerfen.

Am 22. März - ich darf das in Erinnerung rufen - , drei Tage vor dem Grundsatzbeschluss der Europäischen Union zur Griechenland-Hilfe, haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, öffentlich erklärt, dass es nicht um aktuelle Hilfen für Griechenland geht. Einen Tag vor der Sitzung des Rates erklärt der Parlamentarische Staatssekretär beim BMF, Herr Koschyk, hier im Parlament -  ich zitiere - : Der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, hat das von Ihnen genannte Thema nicht für die Tagesordnung des Europäischen Rates am 25./26. März 2010 vorgesehen.

Es kam, wie wir alle wissen, völlig anders. Der Grundsatzbeschluss für die Griechenland-Hilfe wurde just auf dieser Sitzung des Rates gefällt. Es ist immer dasselbe Muster: Entscheidungen verschleppen, hier im Bundestag verschleiern, was genau verhandelt wird. Keiner rückt mit der Sprache wirklich heraus. Stattdessen wurde über Wochen der Boulevard munitioniert, mit den Folgen, die wir jetzt erleben.

Den vorläufigen Höhepunkt haben wir in der vorletzten Woche erlebt. Da erklärte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion unmittelbar vor der Abstimmung und voller gespielter Empörung, wie ich in Erinnerung habe - ich zitiere - : Es bleibt bei den 22,4 Milliarden Euro, die der Bundestag heute mit dem Gesetzentwurf beschließen wird. Es wird kein einziger Cent mehr. Sie haben recht gehabt: Es ist kein Cent mehr geworden. Allerdings sind 750 Milliarden Euro daraus geworden. Das ist die ganze Wahrheit.

Herr Fricke, Sie wissen, dass ich Sie persönlich schätze. Deshalb ein Wort dazu: Man muss vorsichtig sein, wenn man sich in diesen bewegten Zeiten so festlegt, nur um kurzzeitig einmal Applaus von der eigenen Fraktion zu bekommen. Man gefährdet so aber das Vertrauen des ganzen Parlamentes. Vertrauen werden Sie von den Regierungsfraktionen zukünftig dringender brauchen als in den vergangenen Monaten.

Wir reden uns hier im Parlament die Köpfe über die 22 Milliarden Euro heiß. Sie beschimpfen uns, als wir sagen, das werde nicht das Ende der Fahnenstange sein. Fünf Stunden später, am Nachmittag desselben Tages, ist die Dimension der europäischen Rettungspakete dann 20-mal größer als das, was wir vormittags hier verhandelt haben. Vielleicht begreifen Sie wir alle haben einmal hier auf unterschiedlichen Stühlen gesessen, dass der Bundestag und vermutlich am Ende nicht nur die Oppositionsfraktionen Vermutungen anstellen, wer was gewusst hat und wer die Abgeordneten möglicherweise bewusst im Unklaren gelassen hat. Ich will gar nichts unterstellen.

Ich will nicht unterstellen, dass hier jemand bewusst die Unwahrheit gesagt hat; aber die andere Variante, die dann allerdings bleibt, ist nicht die schönere für die Koalitionsfraktionen und die Regierung. Die andere Variante ist aus meiner Sicht die schlimmere. Vieles spricht doch in der Tat dafür, dass die Regierung, die gesamte Mannschaft, nach Brüssel gefahren ist, ohne zu wissen, was die Kommission möglicherweise im Verbund mit den Vertretern größerer Mitgliedstaaten bereits vorbereitet hatte. Das müssen Sie sich einmal vorstellen: Die fundamentale europäische Frage wird ohne Deutschland vorbereitet, vielleicht sogar an Deutschland vorbei und am Ende gegen Deutschland.   Das hat sich in dieser Europäischen Union verändert, und das ist die Bilanz nach sieben Monaten Ihrer Regierungszeit.

Damit wir uns richtig verstehen: Die Entscheidungen, die am 8. oder 9. Mai gefallen sind -  es waren weitreichende Entscheidungen zur Rettung des Euro - , waren richtig. Es war richtig und notwendig,den Angriff der Spekulanten auf den Euro abzuwehren; es war auch richtig, Tabus über Bord zu werfen. Aber seien Sie, meine Damen und Herren, nicht zu stolz darauf. Diesen Mut haben andere in Europa gehabt, nicht die deutsche Bundeskanzlerin und die deutsche Bundesregierung. Was ist aus der deutschen Führungsrolle in Europa geworden? Sie sind vom Führerstand in das Bremserhäuschen umgestiegen, aber das ist die falsche Richtung.

Das wären schon Probleme genug. Etwas anderes - das kann ich Ihnen nicht ersparen - finde ich noch empörender als das eben Beschriebene, nämlich den Satz, der in einer öffentlichen Rede der Frau Bundeskanzlerin gefallen ist: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.  Frau Merkel, das ist ein verräterischer Satz, verräterisch deshalb, weil dieser Satz belegt, woran diese Koalition täglich scheitert, nämlich an der Realität, und zwar nicht nur, weil sie nicht nach den Erfordernissen der Realität handelt, sondern weil sie sich sogar weigert, sie zu benennen.

Frau Merkel, nicht wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt. Die Wahrheit ist: Diejenigen, die über die Verhältnisse gelebt haben, wissen nicht einmal, wie die Verhältnisse für die Mehrzahl der Menschen in Deutschland sind. Aber im Ernst: Auch Sie wollen doch nicht sagen, dass der Wachmann, der jeden Morgen vor der Tür von Frau Merkel steht, mit seinen 1 200 Euro im Monat über seine Verhältnisse gelebt hat. Dasselbe gilt für die Verkäuferin in der Bäckerei oder in der Fleischerei, in denen wir einkaufen, oder die bei Schlecker, Lidl oder Aldi.

Ich habe den Satz nicht gesagt. Damit müssen Sie zurechtkommen. Ich habe nicht gesagt, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben. Aber dass die über ihre Verhältnisse gelebt hätten, ist doch wirklich ein zynischer Satz. Man muss sich wirklich wundern, dass darüber nicht mehr Aufregung in diesem Lande herrscht.

Die Realität, der Sie auf der Regierungsseite sich verweigern, ist eine ganz andere, und das wissen die Menschen. Zum Zusammenbruch im September 2008 kam es nicht deshalb, weil wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, sondern weil die Akteure auf den Finanzmärkten in Unvernunft und Verantwortungslosigkeit jedes Jahr das Rad noch ein Stückchen weiter gedreht haben. Dabei sind sie vom Zeitgeist in den Wirtschaftsinstituten unterstützt und getrieben worden. Das ist die ganze Wahrheit.

Das ging so lange, bis es zum Knall kam und sich alle vom Acker gemacht haben, was dazu führt, dass die Kosten nun genau von denjenigen getragen werden müssen, von denen Sie sagen, sie hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Das darf man nicht machen. Man muss sagen, was ist. Damit fängt jede Verantwortung in der Politik an. Sie wollen nicht sehen und nicht sagen, was ist. Das ist meine Bewertung Ihrer öffentlichen Reden aus den letzten Tagen.

Indem Sie sich dieser Realität verweigern, werfen Sie - das kann ich zumindest in Ihre Richtung sagen - gleich auch noch ein Stück eigene Regierungsgeschichte mit über Bord. Warum? Frau Merkel, Sie hatten in der Großen Koalition einen Finanzminister, der die Konsolidierung des Haushalts betrieben hat, was ihm ohne die Pleite von Lehman Brothers und das, was danach passierte, auch gelungen wäre.

Ohne die Gier und die Maßlosigkeit auf den Finanzmärkten hätte es keine wachsende Neuverschuldung gegeben. Sie wissen das; Sie haben das doch mitgetragen. Warum beschweren Sie sich also? In anderen Zeiten haben Sie das gelobt. Eine Nettoneuverschuldung von null in 2011 wäre realistisch gewesen. Dass es anders kam, werfe ich doch niemandem persönlich vor, auch der Bundeskanzlerin nicht.

Aber der von Peer Steinbrück beschrittene Pfad wurde von denselben 82 Millionen Deutschen beschritten, von denen Sie heute sagen, sie hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Da kann doch irgendetwas nicht stimmen.

Es ist doch ganz offenbar, dass nicht dieses abstrakte „wir“, sondern nur einige, die wir benennen können, die Verhältnisse ins Chaos gestürzt haben. Deshalb bleibt nur ein einziger richtiger Schluss: Diejenigen dürfen jetzt nicht ungeschoren davonkommen. Dafür müssen wir in diesem Hause sorgen.

Die Geschäftsbedingungen haben wir in der vorvergangenen Woche geklärt. Das sind nicht nur unsere. Sie wissen: Bei einer reinen Kreditermächtigung kann es nicht bleiben. Mit Blick auf die Regierungserklärung am heutigen Morgen sage ich: Ich erkenne an, dass es in einigen Fragen offenbar Bewegung gibt, vielleicht sogar die Bereitschaft, sich Anliegen zu eigen zu machen, die wir in der vorletzten Woche hier vorgetragen haben. Aber ebenso klar muss für die nächsten Tage bis zur Abstimmung bleiben: Bloße Ankündigungen - auch das ist das Ergebnis der letzten Woche und des verloren gegangenen Vertrauens - werden nicht ausreichen.

Der Bundestagspräsident hat erst vor wenigen Tagen an das Recht des Parlaments erinnert, Gesetzesvorschläge zu sehen und klare Erwartungen an die Bundesregierung zu richten. Ein Verfahren wie das, das wir in der vorletzten Woche hatten und in dieser Woche haben, mag mit Blick auf die Krise notwendig und unvermeidlich sein. Aber dass ein Verfahren wie dieses   das ist nicht nur die Auffassung der Opposition   am Selbstverständnis des Parlaments rührt, muss uns allen doch klar sein.

Die Selbstachtung des Parlaments verlangt es, dass wir hier nicht nur Reden austauschen, sondern dass wir uns, wenn Sie wirklich die Erwartung haben, etwa bei der Kontrolle der Finanzmärkte und auch bei der finanziellen Beteiligung der Finanzmärkte annähern. Wir sollten uns darüber nicht nur in Reden austauschen, sondern wenn wir uns hinsichtlich einer effektiveren Aufsicht über die Finanzmärkte, der Notwendigkeit einer Regulierung, der Einhegung der Hedgefonds, des Verbots schädlicher Finanzmarktprodukte sowie der Aufsicht über Ratingagenturen und erster Schritte hin zu europäischen Ratingagenturen bis hin zur Frage der Finanzmarkttransaktionsteuer einig sein sollten, dann sollte dies auch schwarz auf weiß in einem Text stehen; das ist geübtes parlamentarisches Verfahren. Das ist keine Holschuld der Opposition, das ist eine Bringschuld der Regierung. Ich fordere Sie auf, das zu erledigen.

Sie können jedenfalls sicher sein   und das abschließend  : Meine Fraktion weiß um die politische Verantwortung für dieses Land wie für Europa. Wir wissen, dass es um riesige, fast unvorstellbare Größenordnungen geht: um 750 Milliarden Euro, davon 500 Milliarden Euro von der EU, 440 Milliarden Euro von den Euro-Ländern. Wir wissen, dass es nicht nur um Kreditermächtigungen und Geld geht, sondern dass mehr auf dem Spiel steht: der künftige Weg Europas und die Zukunft unserer Demokratie. Viel steht auf dem Spiel. Entweder gelingt es uns, die Verhältnisse wieder in Ordnung zu bringen, die Märkte neu zu ordnen und die Lasten fair zu verteilen, oder wir untergraben in der Tat das Vertrauen in Europa und seine Mitgliedstaaten und auch das Vertrauen in die Politik und die Demokratie.

Weil am Ende sehr viel auf dem Spiel steht   wir wissen das  , erfordert das eine sehr sorgfältige und ernsthafte Debatte hier im Hause. Wir werden klar entscheiden; verlassen Sie sich darauf. Aber wie wir uns entscheiden, hängt davon ab, ob die heutigen Ankündigungen wirklich ernst gemeint sind und ob, wie Sie versprochen haben, den Worten tatsächlich Taten folgen. Die Regierung hat das in der Hand.

Herzlichen Dank.