SPIEGEL: Frau Nahles, Sie haben bekanntlich ein gutes Verhältnis zur Kanzlerin. Was werden Sie antworten, wenn Angela Merkel Sie in ein paar Wochen fragt, ob die SPD nicht doch für eine Große Koalition zur Verfügung steht?

Nahles: Hauptaufgabe der SPD ist es ab sofort, die Auseinandersetzung mit der sich formierenden Vier-Parteien-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP zu führen. Punkt. Da gibt es keine Hintertürchen.

Es gibt aber große Zweifel, ob so gegensätzliche Parteien wirklich  zusammenfinden können. Hält die SPD sich bereit, im Zweifel Verantwortung zu übernehmen?

Die Große Koalition ist abgewählt. Die SPD ist nicht die einzige Partei, die eine staatspolitische Verantwortung hat. Wir haben diese in der Vergangenheit bewiesen. Jetzt sind andere an der Reihe. Wir müssen jetzt in der Opposition für unsere Demokratie Verantwortung übernehmen. Es hat in den letzten Jahren an einer wirkungsvollen parlamentarischen Opposition gefehlt. Dieses Defizit muss die SPD füllen, um Unterschiede wieder erkennbar zu machen.

Gerhard Schröder hält es für einen Fehler, dass die SPD eine Große Koalition sofort nach der Wahl ausgeschlossen hat. Geben Ihnen solche Hinweise zu denken?

Mal ehrlich: Gerhard Schröder ist jetzt seit zwölf Jahren nicht mehr im aktiven politischen Geschäft. Ich höre mir Ratschläge von Partei-Oldies gern an - wenn sie mich mal anrufen. Diese Fragen werden heute in der SPD anders diskutiert, aus guten Gründen finde ich.

Die SPD hat das schlechteste Ergebnis der Nachkriegszeit eingefahren. Was war aus Ihrer Sicht das Problem: der Kandidat oder das Programm?

Martin Schulz hat die Partei in schwieriger Lage übernommen und alles gegeben. Und ich halte überhaupt nichts davon, jetzt schon genau zu wissen, woran es gelegen hat. Bei diesem Ergebnis ist aber klar: Es kann nicht alles richtig gewesen sein. Das müssen wir jetzt ehrlich und gründlich aufarbeiten. Wenn wir in vier Jahren wieder ums Kanzleramt kämpfen wollen, müssen wir uns mehr zumuten und unsere eigene Programmatik kritischer in Frage stellen, als wir das je gemacht haben in den letzten 20 Jahren.

Schon häufig hat Ihre Partei nach Niederlagen eine Aufarbeitung angekündigt – passiert ist dann nicht viel. Warum sollte das diesmal anders sein?

Es gab bereits einige gute Analysen, aber bei der Umsetzung sind wir immer auf der Strecke hängen geblieben. Ich habe meine Fraktion bei meiner ersten Rede eine Reihe von Fragen gestellt. Wir sagen immer, die SPD sei eine Sozialstaatspartei. Und der Sozialstaat sei organisierte Solidarität. Aber empfinden die Bürgerinnen und Bürger das auch so? Oder sehen sie nur noch die Bürokratie, die damit verbunden ist? Wir reden über eine Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen von 21 Prozent und über ein Rentenniveau von 48, 50, 46 oder 43 Prozent. Wer in Deutschland kann mit diesen Zahlen etwas anfangen? Wir müssen die Fragen der Menschen so benennen, wie sie auch am Küchentisch gestellt werden. Die SPD braucht auch eine neue Sprache und Ansprache.

Die haben Sie ja schon angedeutet. Die Union bekommt jetzt „in die Fresse“, haben Sie gesagt. Ist das der neue SPD-Sound?

Ich habe am Rande meiner letzten Kabinettsitzung einen Spruch gemacht - die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU haben darüber gelacht. Sie haben es so verstanden, wie es gemeint war, als Scherz. Vor den Kameras ist das bei manchen ganz anders rübergekommen. Ich ärgere mich selbst am meisten darüber.

Solche Sätze, wie den mit der „Fresse“, haben sie in den letzten Jahren zu vermeiden versucht, um sich ein seriöseres Image zu geben. Fallen Sie jetzt in Ihre alte Rolle zurück?

Das war ein spontaner Witz und keine strategische Entscheidung. Aber klar ist: Bundesministerin und Oppositionsführerin sind völlig unterschiedliche Rollen. Ich werde die `Koalition der Zufriedenen`, wie sie schon genannt wird, nicht mit Samthandschuhen anpacken. Die SPD wird die künftige Regierung unmissverständlich herausfordern und den Gestaltungsanspruch der Politik kraftvoll vertreten.

Was muss die SPD tun, um 2021 wieder regierungsfähig zu sein?

Wir müssen einen permanenten Prozess entwickeln, indem wir uns immer wieder kritisch hinterfragen, debattieren und herausarbeiten, worum es eigentlich geht. Und uns dann auch an die Erkenntnisse halten, die wir gewonnen haben. Ein riesiges Problem kennen wir ja schon: die mangelnde Unterscheidbarkeit zwischen uns und der Union in den letzten Jahren. Die unterschiedlichen Werte und Ziele müssen bei vielen Themen wieder sichtbar werden, in der Europapolitik, der Sozialpolitik, der Wirtschaftspolitik. Wir müssen als die klare Alternative zu den Konservativen erkennbar sein.

Das wird nicht einfach. Die Sozialdemokraten sind künftig in der Opposition eingequetscht zwischen der Linkspartei und der AfD. 

Die Sozialdemokratie hat in den 150 Jahren ihrer Geschichte dafür gesorgt, dass es den Menschen besser geht. Und zwar mit konkreter Politik. Wir haben den Sozialstaat ausgebaut, die Mitbestimmung gefördert, Arbeiterkindern den Weg in die Hochschulen geebnet. Kurz: Die SPD hat den Menschen versprochen, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse gestalten zu können. Dieses Versprechen haben uns die Wählerinnen und Wähler zuletzt nicht mehr abgenommen.

Warum nicht?

Wir haben seit 1998 die Hälfte unserer Wähler verloren. Deshalb handelt es sich bei dem Wahlergebnis vom Sonntag um eine wirklich dramatische Niederlage. Die hat die SPD noch nicht verdaut. Ich habe neulich einen LKW-Fahrer in der Kneipe getroffen, einen alten SPD-Wähler, der mir sagt, er überlege jetzt, AfD zu wählen. Der Mann erlebt seit Jahren, wie er durch Billig-Fahrer aus Osteuropa unter Druck kommt. Und was passiert, wenn wir versuchen, seinen Lohn  mit dem gesetzlichen Mindestlohn zu schützen?

Sagen Sie es uns.

Wir bekommen ein Vertragsverletzungverfahren aus Brüssel. Zugleich hört der Mann, dass er seinen Job demnächst womöglich durch selbstfahrende LKWs loswird. Er fühlt sich allein gelassen mit seinen Sorgen. Diese Menschen erwarten von der Sozialdemokratie Antworten und dass wir ihre Lebenslage verstehen. Stattdessen erlebten sie, wie Politiker wie Wolfgang Clement...

... der frühere SPD-Arbeitsminister unter Schröder...

... ihnen nicht mal zuhörten und ein Minimum an Empathie entwickelten.

Damit sind Sie bei der Lieblingsthese vieler Genossen. Die Agenda 2010 war ein Fehler.

Nein, die Agenda war ein notwendiger Reformimpuls. Aber wir haben viel zu lange gebraucht, den Schalter umzulegen. Während sich die Union in rasendem Tempo von den neoliberalen Beschlüssen ihres Leipziger Parteitages verabschiedet hat, führte die Agenda bei uns noch jahrelang zu ideologischen Auseinandersetzungen. Wir haben es versäumt, die negativen Seiten der Globalisierung zu thematisieren. Die SPD muss wieder lernen, den Kapitalismus zu verstehen und wo nötig scharf zu kritisieren.

Wir dachten immer, die SPD hätte spätestens mit dem Godesberger Programm ihren Frieden mit der Sozialen Marktwirtschaft gemacht.

Selbstverständlich! Aber es geht um die Erhaltung und die Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft. Das Problem ist , dass die neuen Formen der digitalen Plattformökonomie, die von den Googles und Amazons dieser Welt entwickelt werden, mit echter Marktwirtschaft wenig zu tun haben, und schon gar nicht sozial sind. Plattform-Unternehmen beherrschen riesige Märkte, aber entziehen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, weil sie kaum Steuern zahlen und so tun, als seien sie keine Arbeitgeber.

Was wäre Ihr Rezept?

Für die Folgen der Globalisierung gibt es nur begrenzt nationale Antworten. Aber international sind wir auch noch nicht weitergekommen. Deshalb bin ich Emmanuel Macron sehr dankbar, dass er diese Woche seine Vision für ein neues gemeinsames Europa mit einem starken, gestaltenden Staat vorgestellt hat, mit einer Verteidigungsunion, gemeinsamen Mindestlöhnen, einem harmonisierten Sozialstaat.

Das sind die Pläne Macrons, in Ihrer Partei ist dagegen längst wieder der alte Richtungsstreit entbrannt Das SPD-Wirtschaftsforum zum Beispiel ist der Auffassung, dass die Partei im Wahlkampf zu sehr das Thema Gerechtigkeit betont hat. Ist da etwas dran?

Das sind die Auseinandersetzungen und Kategorien von gestern. Wenn wir uns weiter darüber streiten, ob wir wirtschaftsfreundlich oder sozial gerecht sein sollen, landen wir bei 15 Prozent. Wir werden gemeinsam an einer Idee für die Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert arbeiten, flügelübergreifend. Soziale Gerechtigkeit ist der politische Kern der Sozialdemokratie. Aber wenn die SPD Volkspartei sein will, muss sie bei anderen Themen ebenfalls Präsenz zeigen. Dies gilt auch für das Sicherheitsthema. Dass wir in unserer Kampagne 15.000 Polizisten mehr gefordert haben, war richtig. Aber dazu gehört auch die Frage, wie kümmern wir uns um die ländlichen Räume, in denen die AfD die höchsten Zustimmungswerte hat.

Fehlt der SPD jemand wie Otto Schily, der das Thema der inneren Sicherheit auch mit einer gewissen Härte zu verkörpern wusste?

Nein. Mit Härte allein kann man das Problem nicht lösen.  Olaf Scholz hat den Satz geprägt: Liberal, aber nicht doof.

Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass die Flüchtlingskrise viele Menschen in Deutschland zutiefst verunsichert hat. Ist es nun in der Opposition leichter, Fehler der vergangenen Jahre zu kritisieren?

Nein. Wir brauchen dringend ein Einwanderungsgesetz, das war schon immer unsere Position. Und die Menschen, die jetzt bereits da sind, müssen besser integriert werden. Aber wir sind nicht naiv. Wenn eine Million Menschen zu uns kommen, sind nicht alle nur nett. Und wer sich nicht an die Regeln hält, muss mit harten Konsequenzen rechnen.

Muss der Staat nicht im Zweifel in der Lage sein, seine Grenzen schließen zu können?

Ja, denn ein Staat muss auch in der Lage sein, Staat zu sein. Er ist eine regulierende, organisierende, ermöglichende aber auch strafende und begrenzende Kraft. Wenn das in Frage gestellt wird, dann geht das auf Dauer nicht gut. Aber diesen Punkt kann man nur europäisch lösen. Alleine zu entscheiden, wir machen jetzt mal zu – das funktioniert nicht.

Auf die weltweite Krise der politischen Linken gibt es zwei Antworten: Die liberale, weltoffene eines Emmanuel Macron. Und die Antwort des britischen Labour-Führers Jeremy Corbyn, der Wirtschaft und Gesellschaft wieder stärker national steuern will. Wo steht die SPD?

Die SPD wird einen dritten Weg finden müssen. Wir ticken anders. Wir haben in Deutschland eine gute Tradition der Verabredungskultur, etwa zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Das ist etwas, das beide Länder nicht haben, weder England noch Frankreich.

Ein zentrales Problem in Deutschland ist die  Spaltung der Linken. Muss die SPD nicht endlich auf die Linkspartei zugehen und eine gemeinsame Strategie entwickeln?

Das haben wir mehrfach und lange versucht. Auch 2009 schon. Frau Wagenknecht erzählt immer, sie wäre ja bereit, wenn die SPD sich bewegt. Aber die wenigen, aber durchaus gewichtigen Unterschiede, die es noch gibt, sind einbetoniert worden. Wo sollen wir denn entgegenkommen?  Wir haben in dieser Legislatur das neunte Hartz IV-Änderungsgesetz gemacht. Das ist doch eine postfaktische Debatte.

Wie konnte es passieren, dass da seit 2009 überhaupt nichts vorangekommen ist?

Es gab viele Arbeitskreise und Gesprächsrunden. Die Linkspartei ist zwar marktkritisch, aber auf dem politischen Markt geht es ihr leider zu oft um ihr Geschäftsmodell „Anti-SPD“ und nicht um politische Verantwortung. Wenn das so bleibt, wird es schwierig.

So lange Frau Wagenknecht die Linkspartei anführt, so lange gibt es also kein rot-rot-grünes Bündnis?

Ich habe mir die neue Zusammensetzung der Linkspartei-Fraktion genau angeguckt. Das hat mich nicht beruhigt. Aber was soll ich da spekulieren. Wir haben jetzt vier Jahre in der Opposition vor uns, und wir müssen uns über unsere gemeinsame Verantwortung für unsere Demokratie auf die eine oder andere Weise verständigen. Dazu bin ich bereit.

Martin Schulz war Kanzlerkandidat, er hat das miserable Ergebnis zu verantworten. Ist er der Richtige, um die Partei neu aufzustellen?

Ja, klar. Martin Schulz ist im März mit 100 Prozent Zustimmung Parteivorsitzender geworden. Wir gewinnen gemeinsam, wir verlieren gemeinsam. Martin Schulz kann sich auf unsere Solidarität verlassen.

Uns scheint, Schulz‘ Autorität schwindet gerade zusehends. Er schafft es nicht einmal, all seine Personalvorschläge durchzusetzen.

Quatsch. Er hat doch gerade mit 90 Prozent die Fraktionsvorsitzende durchgesetzt, die er vorgeschlagen hat. Klar ist die Partei unruhig. Das kriegt er jetzt mehr ab als andere, weil er der Vorsitzende ist. Aber Verantwortung für das Ergebnis tragen viele. Wir haken uns unter und  haben uns in die Hand versprochen, dass in der SPD Teamplay einen neuen Stellenwert bekommt.

Daran hat es gefehlt in der Vergangenheit?

Ja.

Manche Genossen meinen, dass es bei der SPD einige gab,  die den Wahlkampf eher auf eigene Rechnung gemacht haben, Sigmar Gabriel zum Beispiel.

Sigmar Gabriel hat sich voll ins Zeug gelegt. Natürlich muss man über die Kampagne insgesamt nochmal nachdenken. Es wäre dumm, wenn wir das nicht täten. Ein großes Problem war, dass wir immer acht Monate vor der Wahl einen Kandidaten aus dem Hut zaubern und dann von der Parteizentrale Wunder erwarten. Das ist ein Fehler, den wir in vier Jahren nicht wiederholen sollten. Wir müssen auch jenseits der Wahlkämpfe kampagnenfähig sein.

Schulz ist 1994 in die Europapolitik gegangen, sie sind 1995 Juso-Chefin geworden, Generalsekretär Hubertus Heil ist seit 1998 im Bundestag. Wo ist da eigentlich die Erneuerung, von der jetzt alle in der SPD reden?

Sollen wir jetzt den Juso-Unterbezirksvorsitzenden von Pusemuckel vorschlagen? Ganz ohne Erfahrung geht Erneuerung leider auch nicht. Das wichtigste ist, dass die neuen Verantwortlichen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und Schlussfolgerungen ziehen. Das sind verantwortungsvolle Aufgaben, die  große Erfahrung, Disziplin und Durchsetzungskraft erfordern.

Stehen Sie bereit, für den Fall, dass Schulz scheitert?

Nein. Und das wird auch nicht passieren.