Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, machen Sie sich ruhig Mut. Er könnte in den nächsten Monaten nötig sein.

(Beifall bei der SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwei Regierungserklärungen in einer Woche, Sitzungen und Sondersitzungen der Fraktionen, notwendige Zweidrittelmehrheiten, Sondersitzungen des Bundesrates, möglicherweise weitere Sondersitzungen des Deutschen Bundestages über den Sommer hinweg – Frau Merkel, es geht in Europa eben nicht nur um Wachstumsraten, sondern jeder spürt: Es geht in Europa ums Ganze. Diesem Ernst der Lage müssen Sie sich stellen und den Leuten in Deutschland reinen Wein einschenken. Das ist Aufgabe einer Kanzlerin.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe Sie eben sagen hören, es gebe keinen wirklich zuverlässigen Weg aus der Krise. Vor sechs Monaten, am 14. Dezember 2011, haben Sie – das würde ich Ihnen gerne in Erinnerung rufen – sich an dieses Pult gestellt und mit großem Stolz verkündet – ich zitiere –:

Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Wochen die Weichen für dieses neue Europa gestellt, für ein Europa der Stabilität, der Solidarität und des Vertrauens.

Frau Merkel, ich weiß nicht, ob Sie das damals selbst geglaubt haben. Aber eines weiß ich ganz gewiss: Von einem Europa der Stabilität, der Solidarität und des Vertrauens sind wir heute weiter entfernt denn je.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach! Das ist jetzt aber peinlich!)

Das hat auch mit Ihnen und Ihrer Regierung zu tun, Frau Merkel: mit der Mischung aus einer Fehldiagnose von Krisenursachen und darauf gegründeter Schulmeisterei.

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Warum stimmen Sie denn dann zu? Sie haben immer zugestimmt!)

Sie waren bisher nicht Teil der Lösung, sondern Sie -waren und sind Teil des Problems. Das ist die ganze Wahrheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die SPD hat immer zugestimmt!)

Vielleicht haben Sie ja im Dezember letzten Jahres wirklich geglaubt, dass der Scheitelpunkt der Krise bereits überschritten ist. Vielleicht dachten Sie damals -tatsächlich: Wenn wir den Fiskalpakt auf den Weg bringen und alle gemeinsam sparen, dann kehren in Europa wieder Ruhe und Ordnung ein. – Das war damals blauäugig. Heute sind Sie durch die harte ökonomische Realität in Europa schlicht und einfach überholt worden. Griechenland, Irland und Portugal sind unter dem Rettungsschirm. Spanien und Zypern klopfen an. Griechenland wartet wieder vor der Tür. Die Krise schlägt doch in Wahrheit eine Schneise der Verwüstung durch ganz Europa, und es ist kein Ende in Sicht. Die Krise erreicht auch uns.

Wir haben Ihnen nicht nur von diesem Pult aus, sondern immer wieder auch öffentlich gesagt: Konsolidierung ist ganz ohne Zweifel notwendig. Aber wir schaffen das nicht alleine durch Sparen. Wir müssen in Europa auch für Wachstum sorgen. Das ist unsere eigene deutsche Erfahrung. – Sie wollten das nicht hören. Aber ich sage Ihnen: Ihre Politik ist gescheitert, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Weil das so ist, hätten wir von der SPD es uns leicht machen können.

(Zurufe von der FDP: „Hätten“? – Was? Habt ihr doch! – Lachen bei Abgeordneten der FDP)

– Ich würde an Ihrer Stelle nicht lachen.

(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das stimmt! Mir würde das Lachen im Halse stecken bleiben! – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: In der Tat!)

Wir hätten es uns, wie gesagt, leicht machen und sagen können: Eine Regierung, die uns nach der Vereinbarung über den Fiskalpakt auf der europäischen Ebene zehn Wochen lang nicht zu Gesprächen einlädt, sondern erst das Ergebnis der nordrhein-westfälischen Landtagswahl abwartet,

(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Richtig!)

eine Regierung, mit der wir seit über zwei Jahren zuverlässig die Erfahrung machen, dass sie zunächst alles Mögliche verhindert, um es sechs oder acht Wochen später dann doch zu machen, hat kein Vertrauen und keine Unterstützung verdient.

(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Richtig! Das hättet ihr sagen müssen!)

Viele unserer Abgeordneten haben gesagt: Lasst sie doch zusehen, wie sie in der Regierung zurechtkommen. – Das kann ich dem einen oder anderen nicht einmal verdenken.

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Es geht jetzt doch nicht um uns!)

– Es geht eben nicht um Sie; genau. Darum haben wir nicht nach diesem verständlichen Reflex gehandelt, sondern sind einen schwereren Weg gegangen. Wir sind – anders als die Linkspartei, die hier in einer solchen Situation fröhliche Zurufe macht –

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: So fröhlich sind die aber nicht!)

einen schweren Weg gegangen. Wir haben in harten -Verhandlungen Ton und Stoßrichtung der europäischen Debatte verändert.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was? Das ist nicht Ihr Ernst!)

Die reine Austeritätspolitik ist vom Tisch. Konsolidierung und Wachstum, das ist der neue Zweiklang. Ihn gäbe es nicht ohne Sozialdemokraten, auch nicht in diesem Parlament.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ach! Alles Luftblasen!)

Ich sage noch einmal in Richtung der rechten Seite dieses Parlaments: Ein Fiskalpakt allein, wie Sie ihn ursprünglich verhandelt haben, hätte in diesem Parlament keine Chance auf eine Zweidrittelmehrheit. Machen Sie sich das immer wieder klar!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die ergänzenden Wachstumsimpulse, neue Instrumente wie Projektanleihen, die Stärkung der Europäischen -Investitionsbank und auch das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit sowie die Transaktionsteuer -machen dieses Paket doch erst zustimmungsfähig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das waren unsere Forderungen, und wir haben uns damit durchgesetzt. Deshalb danke ich allen in meiner Fraktion, die geholfen haben, das zu verhandeln.

(Beifall bei der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Glauben Sie das eigentlich selbst?)

Wir haben gestern in der Fraktionssitzung ausführlich über das Verhandlungsergebnis diskutiert. Eine große Mehrheit in meiner Fraktion steht hinter den erreichten Vereinbarungen. Wenn der Europäische Rat diesem Verhandlungsergebnis folgt, dann werde ich meiner Fraktion am Freitag empfehlen können, dem Fiskalpakt und dem ESM zuzustimmen.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Vielen in meiner Fraktion fällt die Zustimmung zu diesem Gesetzgebungspaket nicht leicht, vor allen Dingen wegen der nicht ganz leichten verfassungsrechtlichen Fragen, die sich stellen. Wir haben diese verfassungsrechtlichen Fragen in mehreren Fraktionssitzungen hintereinander ausführlich miteinander diskutiert, und wir haben versucht, so weit wie irgend möglich Antworten auf die Fragen zu geben. Vielleicht haben wir nicht jeden überzeugt; aber das ist eben auch eine Folge der Rechtskonstruktion für diesen Fiskalpakt, die ja ursächlich auf die Vorschläge dieser Regierung zurückgeht. Der Pakt ist nämlich als ein völkerrechtlicher Vertrag neben und außerhalb des europäischen Institutionensystems konzipiert, und das führt uns eben ganz ohne Zweifel auf schwieriges juristisches Terrain.

Deshalb sage ich an dieser Stelle und mit Absicht heute: Das muss eine absolute Ausnahme bleiben. Halten Sie sich in Zukunft an geltendes europäisches Recht! Andernfalls entsteht ein Flickenteppich, mit dem wir in Zukunft umzugehen nicht mehr in der Lage sind. Das ist die schlichte Wahrheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – -Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann hätten Sie nie eine Transaktionsteuer gekriegt! Mannomann!)

– Herr Kauder, ich darf kurz zur Aufklärung beitragen: Die verstärkte Zusammenarbeit gehört zu den anerkannten europäischen Instrumentarien. Das ist nichts Neues, sondern im europäischen Recht verankert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zweiter Appell. Frau Merkel, es kann nicht sein, dass das Nachdenken über die Zukunft der Europäischen Union und über die weitere Ausgestaltung der europäischen Integration allein Exekutivvertretern obliegt. Das ist ein gefährlicher Weg für uns alle und durch den Deutschen Bundestag nicht hinzunehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb ist mein Appell: Wenn Arbeitsgruppen beauftragt werden, müssen Vertreter der Parlamente hinzugezogen werden.

Der morgige Gipfel mag ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Lösung der Krise sein. Vielleicht ist er ein notwendiger Schritt, aber ich sage Ihnen voraus – und Sie sehen es ja nicht anders –: Ein Ausweg aus der Krise wird dort nicht gefunden. Die Turbulenzen auf den -Finanzmärkten werden nicht zu Ende sein. Das ist ja in der Tat auch der Grund, weshalb Sie schon jetzt weiterreichende Beschlüsse für die Zukunft ankündigen.
Weil Sie eben die Verhandler und die Autoren solcher Papiere auf der Brüsseler Ebene gelobt haben, sage ich Ihnen: Auf den Brüsseler Fluren spricht sich etwas ganz anderes herum. Da wird eine ganz andere Geschichte erzählt. Es wird nämlich gesagt: Statt Van Rompuy dabei zu unterstützen, mutige Integrationsschritte nach vorne zu gehen, hat Berlin im Vorfeld schon den Rotstift angesetzt, und über die Hälfte des Textes, den Van Rompuy entworfen hat, ist dem schon zum Opfer gefallen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)

Deshalb ist es etwas heuchlerisch, wenn Sie sagen, die Reformkommission habe gute Arbeit geleistet. Das wird hier bei anderer Gelegenheit, wenn wir die Texte kennen, noch zur Sprache kommen.

Heute und zum Schluss sage ich Ihnen: Unsere Erwartung an diese Regierung und an Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist: Sorgen Sie dafür, dass das Verhandlungsergebnis verbindlich in die Ergebnisse des Europäischen Rates eingehen wird. Nur dann wird die Zweidrittelmehrheit hier im Deutschen Bundestag zu erreichen sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)