Wie bewertest du die Lage nach zwölf Jahre internationaler Präsenz in Afghanistan? Was hat sich für die Menschen dort positiv verändert?

Die Lage ist sehr unterschiedlich, je nachdem in welchen Landesteil man schaut. Grundsätzlich lässt sich aber feststellen, dass es den meisten Afghaninnen und Afghanen heute deutlich besser geht als vor zwölf Jahren. Wesentlich mehr Menschen haben heute Zugang zu Wasser und Strom, zu Bildung und zur Gesundheitsversorgung. Davon profitieren insbesondere Frauen und Mädchen, die lange Zeit hiervon weitgehend ausgeschlossen waren. Positiv verlaufen sind auch die Wahlen am 5. April, deren endgültiges Ergebnis wir zwar noch nicht kennen. Aber schon jetzt lässt sich feststellen, dass die Wahlbeteiligung deutlich höher war als vor fünf Jahren und es den Taliban nicht gelungen ist, die Wahlen massiv zu stören. Die Menschen haben sich trotz der Terrordrohungen nicht von ihrem Recht auf Mitbestimmung abhalten lassen. Das ist ein sehr ermutigendes Zeichen!

Wo gibt es auch weiterhin noch Handlungsbedarf?

Nach wie vor ist die Arbeitslosigkeit ein großes Problem in Afghanistan. Hiervon sind leider die Frauen am meisten betroffen. Ihre ökonomische Grundlage ist damit infrage gestellt. In diesem Bereich Grundlegendes zu verbessern, ist ein entscheidender Faktor dafür, das Land langfristig zu stabilisieren. Ein weiteres großes Problem ist der steigende Drogenkonsum insbesondere unter jungen Menschen. 65 Prozent aller Afghaninnen und Afghanen sind unter 25 Jahre alt. Das eine riesige Herausforderung, zugleich aber auch eine große Chance für das Land, wenn es gelingt diesen Menschen eine Perspektive zu geben.

Bei der Londoner Afghanistan Konferenz 2010 haben sich die internationalen Partner auf einen Truppenabzug bis 2015 geeinigt. Gleichzeitig erreichen uns immer wieder Nachrichten von Selbstmordattentaten oder Bombenanschlägen in Afghanistan; die Lage in manchen Gebieten ist immer noch unsicher. Warum ist der Truppenabzug dennoch der richtige Schritt?

Der Entscheidung zum Truppenabzug liegt die Überzeugung zugrunde, dass Afghanistan nach 13 Jahren internationaler Truppenpräsenz für die Sicherheit des Landes selbst Verantwortung übernehmen muss. Im Übrigen tut es das bereits auch heute schon in weiten Landesteilen bzw. in der Hauptstadt Kabul. Außerdem wollen wir Afghanistan ja nicht im Stich lassen, sondern weiterhin bei der Ausbildung der Sicherheitskräfte unterstützen, sofern die erforderlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Dann würden voraussichtlich noch 600-800 Bundeswehrsoldatinnen und Soldaten in Nordafghanistan und in Kabul ihren Dienst tun und damit einen wichtigen Beitrag zur weiteren Stabilisierung der Lage beitragen. Dies wäre dann aber kein Kampfeinsatz mehr wie bislang.

Vor wenigen Wochen hat der Deutsche Bundestag das Afghanistan-Mandat ein letztes Mal verlängert bevor im kommenden Jahr auch die deutschen Soldatinnen und Soldaten das Land verlassen. Was folgt dann? Wie muss sich Deutschland auch zukünftig in Afghanistan engagieren?

Deutschland genießt nach wie vor große Glaubwürdigkeit, nicht nur in Afghanistan selbst, sondern in der gesamten Region. Der sogenannte „Istanbul-Prozess“, d.h. die Einbeziehung der Nachbarstaaten in eine politische Lösung des Afghanistankonflikts, muss mit noch mehr Leben gefüllt werden. Hier sollte sich Deutschland weiter engagieren. Wichtig ist eine verlässliche Partnerschaft und finanzielle Hilfe für das Land, damit es sich aus der gegenwärtig schwierigen Lage befreien kann. Deutschland hat sich bereiterklärt, Afghanistan bis mindestens 2016 jährlich mit bis zu 430 Mio. Euro im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu unterstützen. Ein weiterer wichtiger Punkt bleibt die Verbesserung der Menschenrechtslage, gerade auch von Frauen und Mädchen. Sie muss eingebettet sein in die Förderung einer gesamtgesellschaftlichen Modernisierung Afghanistans.

 

Das Interview führte Johanna Agci.