Frau Nahles, was sagen die Leute auf der Straße in Weiler, die Nachbarn, die Bekannten, zum Zustand Ihrer SPD?

Andrea Nahles: Die Leute in Weiler reden mit mir über das Wetter, dass die Straße repariert werden muss, die Schule. Über Politik reden sie nicht oft mit mir. 

Weil das für schlechte Stimmung sorgt?

Nein. Ich glaube, sie wollen mir ein Leben auch außerhalb der Politik ermöglichen. Zu besonderen Anlässen, etwa beim Dorffest oder der Kirmes, reden wir dann doch auch über bundespolitische Fragen. So bekomme ich mit, was im Land von der Berliner Politik wirklich ankommt.   

In Bayern hat die SPD bei der Wahl ihr Ergebnis halbiert und liegt unter zehn Prozent. Im Bund liegen die Umfragen bei noch etwa 15 Prozent. Bleibt bald gar nichts mehr übrig von der SPD?

Die Lage ist sehr ernst. Sie SPD hat auf mehreren Ebenen Probleme – das ist nichts, was uns überrascht. Wir haben vieles längst erkannt. 

Die beiden Spitzenkandidaten der Landtagswahlen in Bayern und Hessen beklagten, die SPD habe ein Glaubwürdigkeits- und Vertrauensproblem. Wann fing das an?

Der große Vertrauensbruch liegt länger zurück. Das war schon vor 2009, als wir bei der Wahl auf 23 Prozent abgestürzt sind. Damals habe viele die SPD nicht mehr als die soziale Stimme, als die Partei der Gerechtigkeit und der Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahrgenommen.

Das Hartz-IV-Trauma?

Das ist nicht nur die Hartz-IV-Reform, es kam auch die Rente mit 67 hinzu. Davon haben wir uns bis heute nicht erholt. Die Menschen haben jetzt jahrelang zugeschaut, wie die SPD bei um die 20 Prozent dümpelt. Jetzt sinkt die Hoffnung, dass es besser wird.

Würden Sie die SPD noch eine Volkspartei nennen?

Ja. Das hat für mich weniger mit Prozentzahlen zu tun. Das ist eine Frage der Politik, die man anbietet. 

Wirkt das nicht irgendwann lächerlich, wenn die Wahlergebnisse wie in Bayern einstellig werden?

Ich lebe in einem Bundesland, das in einer Ampel-Koalition von der SPD regiert wird. Auch in anderen Ländern regiert die SPD erfolgreich. Das heißt: in einigen Regionen gelingt es der SPD weiterhin sehr gut, Volkspartei zu sein – selbst wenn man nur die Ergebnisse betrachtet. In anderen Regionen nicht. Dabei ist das Politikangebot nicht sehr unterschiedlich. Eher ist es so, dass die SPD mit keinem Ort in der politischen Landschaft mehr verbunden wird. 

Wo steht die SPD?

Die SPD, das ist die Partei für den sozialen Zusammenhalt in einerGesellschaft, die sich – stärker als wir selber es auch wahrhaben wollen – zergliedert hat. Zusammenhalt – das war früher oft unser Slogan. Damit haben wir Wahlen gewonnen. Die Frage heute ist doch: Wer ist „Wir“: Worin äußert sich in einer vielfältigen Gesellschaft der Zusammenhalt – den wir natürlich dringend brauchen. Ich fürchte, wir reden da zurzeit noch drüber weg. 

Was meinen Sie damit?

Es hat sich etwas verändert. Was wir gut können, sogar besser als die Union, ist der klassische Politikbetrieb. Dort sind wir erfolgreich, aber das hilft uns kaum. Ein Beispiel: Wir beenden das Irak-Mandat. Vor zwei Jahren wäre noch das in aller Munde gewesen. Jetzt findet es so gut wie nirgendwo Erwähnung, dass ich es durch zähe Verhandlung geschafft habe, dass wir auch mal einen Auslandseinsatz der Bundeswehrbeenden. Wer jetzt vorschlägt, dass wir bei diesem klassischen Politikbetrieb noch besser, noch erfolgreicher werden müssen, liegt, glaube ich, falsch. Wir verlieren auf einer anderen Ebene. Es geht dabei eher um kulturelle Fragen. Das nennt man heute: Haltung zeigen! Früher hieß das Grundüberzeugungen, Werte. Aber die haben wir ja immer noch. Ich habe den Eindruck, es geht in Wahrheit um etwas anderes. Viele haben einfach keine Lust mehr auf Kompromisse. Sie wollen 100-Prozent-Lösungen. Das werden wir aber nicht durchsetzen können. Wir müssen uns also mehr mit der Frage beschäftigen, was strahlen wir eigentlich aus: Hoffnung? Selbstbewusstsein? Tatkraft? Jedenfalls nicht ein Jammern und Jaulen, wie es derzeit zu oft der Fall ist.

Was braucht die SPD jetzt?

Ich höre in der SPD oft, wir müssten das mal inhaltlich diskutieren, aber dann diskutiert man doch lieber darüber, wann ein Parteitag stattfinden soll. Tatsächlich brauchen wir mal inhaltlich im guten Sinne fettenStreit, der dann aber auch mal was klärt. Aber nicht darüber , ob Groko oder nicht Groko. Sondern zu inhaltlichen Themen wie diese: Was ist unsere Vorstellung beim Sozialstaat? Wollen wir in die Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens gehen oder wollen wir etwas für die hart arbeitenden Menschen in unserem Land machen?

Für viele in ihrer Partei ist aber die Hauptfrage tatsächlich eine andere: Raus aus der großen Koalition oder nicht? Die Gegner werden lauter. Die Stimmung dreht.

Ich sehe das anders. Klar, es gibt große Unzufriedenheit auch bei jenen, die im Frühjahr noch für die Koalition gestimmt hatten. Viele haben erwartet, dass sich die Partei stärker freischwimmt undsind jetzt enttäuscht, weil das nicht gelungen ist. Auch ich habe nicht damit gerechnet, dass alles so überlagert wird von den Streitereien in der Union. Heute würde das Ergebnis vielleicht schlechter ausfallen als im Frühjahr, aber auch heute würde die SPD nicht kopflos abstimmen. 

Wo sehen Sie Ihre Versäumnisse?

Das habe ich öffentlich klar gesagt. Es war der Umgang mit der Personalie des Verfassungsschutzchefs Hans-Georg Maaßen.

Ihre SPD war entsetzt, weil die Parteichefs ihn trotz seines Fehlverhaltens noch befördern wollten. 

Ich habe zusammen mit Merkel und Seehofer einen Fehler gemacht. Ich habe diesen offen benannt und korrigiert, so gut es ging. 

Seit Ihrer Wahl zur Parteichefin lief es nicht wirklich gut für Sie.

Ich bin jetzt seit einem halben Jahr Parteivorsitzende. Es fing schon damit an, dass ich mit 66 Prozent gewählt wurde. Die Partei war da schon gespalten. Dann waren wir mit einer für alle komplett überraschend schwierigen Lage in der Union und damit in der großen Koalition konfrontiert. Es folgte eine Krise nach der anderen. In den letzten Monaten habe ich mich wie gefühlt wie die Schauspielerin in dem Film „Lola rennt“.

Wo stehen Sie jetzt?

Ich habe eingeleitet, was ich für die SPD für notwendig erachte, die SPD debattiert wieder über Inhalte. Wir haben nächste Woche ein Debattencamp, ein Treffen von 3200 Leuten in Berlin. Dort werden wir genau das tun, was ich möchte: Debatte. Zukunftsthemen. Streit, wo es nötig ist. Wir rufen einen kontroversen Punkt neben dem anderen auf. Das wird ein Meilenstein auf einem längeren Weg. Mir ist zu viel Unduldsamkeit in der Partei. Wenn jemand meint, es schneller oder besser zu können, soll er sich melden. Ich bin da ganz ehrlich: Mein Leben wäre wesentlich einfacher, wenn ich mir diese Päckchen nicht auf die Schulter gepackt hätte. Ich tue es aber mit all meiner Kraft,Leidenschaft und Zuversicht.

Muss die SPD früher als zur Halbzeit der Legislaturim Herbst 2019 über die Zukunft der Koalition entscheiden? Einige Funktionäre wollen den SPD-Parteitag aufs Frühjahr vorziehen.

Nein. Vom Neuanfang in der großen Koalition, bis zur inhaltliche Erneuerung der SPD – da ist der Zeitpunkt für den Parteitag Ende 2019 schon extrem sportlich. Den Parteitag vorzuziehen, das würde auch heißen, die Parteispitze früher neu zu wählen. Die Befürworter argumentieren: wenn wir jetzt den Erneuerungsprozess beschleunigen, dann brauchen wir zum Abschluss die Legitimation durch einen Parteitag. Das klingt plausibel, ist aber meiner Meinung nach nicht ganz ehrlich.

Was wollen die Leute wirklich – raus aus der Groko? Sie als Chefin loswerden?

Beides, vermute ich. Die Parteispitze kommt am Sonntag und Montag zur Klausur zusammen. Wenn eine Mehrheit der Meinung ist, den Parteitag vorzuziehen, das sei die richtige Antwort, dann machen wir das. Wenn nicht, dann nicht. Ich werde mich jedenfalls nicht dafür aussprechen. Wir wollen doch aus Fehlern lernen und das heißt, wir wollen auch die Mitglieder mitnehmen bei der Neuausrichtung.

Es geht also zur Sache.

Es ist eine Situation entstanden, in der wir in dieser Klarheit miteinander reden müssen. Ich möchte wissen, was es bringen soll, wenn man einen Parteitag vorzieht oder das Personal austauscht. Ich möchte auch, dass die Motive und Anliegen der Leute offen auf den Tisch gepackt werden. Das ist es, worum ich bitte.

Ex-Kanzlerkandidat Steinbrück wünscht sich einen Bernie Sanders für die SPD – nur 30 Jahre jünger. Ist das die Lösung?

Ich bin zwar fast genau dreißig Jahre jünger als Sanders, aber ich tippe mal, Steinbrück hat nicht mich gemeint.

Vize-Kanzler Olaf Scholz, Ihr Vertrauter, hält sich – so der Eindruck – auffallend zurück, wenn es um die Krisenbewältigung geht.

Nein, er hält sich nicht zurück. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass Olaf Scholz mich nicht genügend unterstützt. Ich habe insgesamt kein Problem mit meinen Stellvertretern, sondern damit, dass die SPD geknickt und wütend ist. Ich kann das verstehen. Aber das eigentliche Problem der SPD ist, dass sie nicht genügend Menschen in diesem Land überzeugt.

Wie will die SPD wieder überzeugen?

Indem wir mit Leidenschaft und Optimismus jeden Tag für mehr soziale Gerechtigkeit antreten. Mit mehr Klarheit und Selbstbewusstsein. Wir müssen unsere Widersprüche auflösen. Wir können uns das nicht mehr leisten, unklar zu sein.

Zum Beispiel?

Die „schwarze Null“ halten oder investieren. Ich bin der Meinung, schwarze Null und Investitionen – das geht beides, über gerechte Steuern. Ein anderer Punkt: Wir brauchen mehr Investitionen in unsere Kernindustrien, die den Klimaschutz nicht als lästige Pflicht interpretieren und hintertreiben. Das ist aber das, was einige machen, wie wir im Fall der abgasmanipulierten Autos gesehen haben. 

Der größte Konflikt liegt im Umgang mit Hartz IV.

Das hängt an uns wie ein Bleigewicht. Wir müssen mit dieser Debatte Schluss machen. 

Was heißt das – alles zurückdrehen?

Nein. Nicht alles war schlecht. Wir haben aber ein Problem mit der Logik, die damals den Reformen zugrunde gelegt wurde. Im Blickpunkt standen jene, die die Sozialleistungen missbrauchten. Wir müssen weg vom Ansatz des Misstrauens, der Sanktionitis,sondern umgekehrt den Sozialstaat aus dem Blickwinkel derjenigen gestalten, die Hilfen brauchen und die Rechtsansprüche darauf haben. Ich habe mir Reden aus der damaligen Zeit angeguckt, Reden von unserem damaligen Minister Wolfgang Clement und von anderen. Da schäme ich mich heute noch dafür. Sie haben damals die Sozialstaatsidee der SPD ruiniert.

Juso-Chef Kevin Kühnert, der sich im Erneuerungsprozess der Partei mit der Zukunft desSozialstaates befasst, geht die Diskussion nicht schnell genug.

Ja mir geht auch manches nicht schnell genug. Aber jetzt von oben ohne Beteiligung der Mitglieder wieder alles vorgeben, greift ebenfalls zu kurz. Wir wollen doch aus Fehlern lernen. Wir haben uns oft auf Parteitagen mit Hartz-IV befasst, ohne den Konflikt am Ende zu befrieden. Wir brauchen die Zeit bis ins nächste Jahr, wenn wir es richtig machen wollen. Jetzt kopflos alles umzuwerfen, ist Blödsinn. Wir beschleunigen, aber wir beteiligen auch. 

Nervt Kevin Kühnert sie heute anders als Sie damals als Juso-Chefin Gerhard Schröder genervt haben? 

Nein, ich vermute nicht. Ich denke, ich habe es damals Schröder auch nicht leicht gemacht. Ich bin sogar der Meinung, dass er seinen Job gut macht.

Kühnert bleibt Ihnen wohl auch noch einige Zeit. Anders ist das mit Angela Merkel. Sie hat ihren Rückzug eingeleitet. Werden Sie sie vermissen?

Ich habe größten Respekt für Angela Merkel. Dafür, dass sie es geschafft, die erste Kanzlerin zu werden. Und das in einer Partei, die ihr viele Steine in den Weg gelegt hat. Allein ihre Kraft und ihre Zähigkeit, das beeindruckt mich. Ich bin seit einem halben Jahr Parteivorsitzende. Sie macht diesen Job seit 18 Jahren. Da sage ich: hui. Vielleicht ist es ja in der Union ja leichter. Trotzdem finde ich, dass sie die CDU in einem relativ desolaten Zustand hinterlässt.

Merkel wird aus Reihen von CDU und CSU die „Sozialdemokratisierung“der Union vorgehalten. War sie die bessere Sozialdemokratin?

Sie steht für die Entpolarisierung der beiden Volksparteien. Und das hat beiden Volksparteien nicht gut getan.

Bald bekommt die CDU eine neue Vorsitzende oder einen neuen Vorsitzenden. Was bleibt von der Union, mit der sie den Koalitionsvertrag unterzeichnet haben? 

Der Koalitionsvertrag ist unsere gemeinsame Grundlage. Ich gehe einfach mal stur davon aus, dass alle Kandidaten, die sich jetzt um den CDU-Vorsitz bewerben, dies so akzeptieren. 

Wie verhält sich die SPD, wenn Merkel früher als angekündigt auch die Kanzlerschaft abgibt?

Wir wären naiv, wenn wir uns nicht auf alle Szenarien vorbereiten würden. Und das tun wir auch. Für uns ist entscheidend, ob die Union ihren Richtungsstreit durch eine neue Person an der Spitze der CDU in den Griff bekommt. Das ist noch nicht gesagt. Wenn der Streit aber bleibt, ist die Regierung nichts wert. Wir wollen ganz konkret Politik machen. Wir stehen deswegen zur Regierung, aber auch nur, solange wir wirklich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger regieren können. 

Ist ein Neuanfang in der großen Koalition mit Horst Seehofer als CSU-Chef oder Bundesinnenminister möglich?

(Nahles schweigt lange) Das ist eine Angelegenheit der CSU.