Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von den Regierungsfraktionen!

Sie haben zu Recht geklatscht bei den wohltuenden Mahnungen Ihres Finanzministers, unseres Finanzministers, Herrn Schäuble. Ich hoffe, Sie lassen sich bei Ihren Entscheidungen von diesen Mahnungen leiten.

Das ist etwas ungewöhnlich: Wir hören innerhalb von zwei Tagen zwei Regierungserklärungen zu ganz unterschiedlichen Themen, und doch sind Ähnlichkeiten unübersehbar. Gestern hat die Bundeskanzlerin ihre Kehrtwende in der Energiepolitik mit Fukushima erklärt oder – kurz – mit neuen Einsichten durch neue Realitäten. Ich habe mich gestern Abend gefragt: Was muss eigentlich in Europa passieren, damit diese Regierung erkennt, dass in Europa mehr auf dem Spiel steht – das haben Sie gerade auch den Ausführungen von Herrn Schäuble entnehmen können – als ein Kredit für Griechenland?

Wir haben in Europa eine veritable Krise, vielleicht die größte Krise seit der Gründung der Europäischen Union. Bis auf Herrn Schäuble – den nehme ich ausdrücklich aus – macht der Rest der Regierung Dienst nach Vorschrift und viele weniger als das. Das ist die Lage.

Sie vermissen das doch selbst, ich höre das doch auch aus Ihren Reihen. Wo ist denn unsere Führungsrolle in Europa geblieben? Wer erzählt den Menschen draußen auf den Marktplätzen – nicht hier im Bundestag –, in den Hallen, in denen wir auftreten, dass uns dieses Europa 60 Jahre Frieden garantiert hat, dass wir einen guten Teil unseres Wohlstandes diesem Europa verdanken?

Wer erzählt den Menschen eigentlich – auch das klang bei Herrn Schäuble eben ein bisschen an –, dass diese sich so rasch verändernde Welt gerade dabei ist, die Nachkriegsordnung, aufgrund derer vielen europäischen Staaten Sitze in den internationalen Organisationen eingeräumt worden sind, hinter sich zu lassen, wir aber in der Welt überhaupt nur über dieses Europa sprachfähig sind? Das ist doch die Situation.

Ich bin froh, Herr Schäuble, dass Sie in Ihrer Rede daran erinnert haben, dass ohne dieses vereinte Europa auch die deutsche Einheit sehr viel schwieriger, vielleicht sogar unerreichbar gewesen wäre. Deshalb komme ich für mich zu dem Ergebnis – Sie mögen es anders sehen –: Europa war nicht immer populär und ist das wohl zurzeit auch nicht. Aber wenn wir den Eigenwert der europäischen Einigung nicht benennen, meine Damen und Herren, oder an ihn nicht einmal erinnern, dann führt das dazu, dass Entscheidungen im alltäglichen europäischen Krisenmanagement von unseren Bürgerinnen und Bürgern eben nur als Maßnahmen einer seelenlosen Technokratie angesehen werden. Dafür bringen sie keine Opfer; darauf setzen sie keine Hoffnung für die Zukunft.

„Europa ist unsere Zukunft, eine andere haben wir nicht“, hat Hans-Dietrich Genscher vor einigen Wochen geschrieben.

Wenn das so ist – ich zitiere ihn mit einiger Absicht –, dann braucht dieses Europa jetzt mehr denn je Menschen, die mit Mut und Leidenschaft für Europa eintreten. Genau von diesen Menschen sehe ich aber in Ihren Reihen nicht genügend, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen.

– Jetzt schütteln viele von Ihnen mit dem Kopf; aber es reicht doch, die Zeitungen der letzten zwei Wochen zu lesen. In den entsprechenden Meldungen wird die ganze Grummelei und Nörgelei aus den Koalitionsfraktionen abgebildet. Daraus geht hervor, dass nicht nach vorne gedacht wird und keiner einschreitet, wenn der eine oder andere mal eben so schlankweg den Rausschmiss einiger notleidender Staaten aus der Europäischen Währungsunion fordert. Niemand stellt richtig, wenn mit offensichtlichen Falschmeldungen über faule Südeuropäer der Stammtisch bedient wird – stattdessen Herrenreiterpose mit stolz geschwellter Brust über unsere so starke Ökonomie. Als hätte diese Regierung auch nur einen Schlag dafür getan, dass wir die Stärke auf diesem Gebiet wiedergewonnen haben!

Frau Merkel, wir waren gemeinsam auf vielen europäischen Gipfeln. Ich hatte nie Anlass, an Ihrer europäischen Einstellung zu zweifeln. Aber vielleicht verstehen Sie, dass derjenige, der in Brüssel Reden über europäische Solidarität hält und dann scheinbar unbeobachtet im Sauerland das eine oder andere Ressentiment bedient, eben den Verdacht weckt, dass ihm Europa keine Herzenssache ist. Genau das spüren die Menschen.

Deshalb sage ich ohne Schaum vor dem Mund und durchaus zur Erinnerung an uns alle: Dieses Reden mit gespaltener Zunge über Europa, das müssen wir einstellen, das müssen Sie einstellen. Wenn wir das nämlich beibehalten und pflegen, wenn wir in Brüssel anders reden als zu Hause in den Wahlkreisen, kommt mehr ins Rutschen, als wir jetzt schon sehen. Wie sollen denn die Menschen an Europa glauben, meine Damen und Herren, wenn wir ihnen auch noch die falschen Gründe dafür liefern, es nicht zu tun? Wie soll das denn gehen?

Gestern in der Regierungserklärung haben Sie hier Ihre Irrtümer aus dem „Herbst der Entscheidungen“ eingesammelt. In der heutigen Debatte reden wir über die Folgen, die aus anderthalb Jahren Unentschiedenheit entstanden sind.

Seit anderthalb Jahren sagen Sie im Grunde genommen den Menschen nicht, was ist. Nur die Gründe dafür wechseln: Mal sind es Landtagswahlen, mal die knappe Mehrheitslage in den Koalitionsfraktionen. Sie führen jedenfalls immer ausreichend Gründe an, um entweder Probleme kleinzureden, große Lösungen zu vermeiden, Zeit zu gewinnen oder was auch immer. Das ist nicht Verantwortung, und das ist nicht Politik.

Das Ergebnis dieser Politikverweigerung spricht für sich. Bisher wurden Sie noch nach jeder Ihrer Ankündigungen nach drei Monaten von der Entwicklung auf den Finanzmärkten eingeholt und von der Wirklichkeit überholt. Was haben Sie in den letzten anderthalb Jahren in diesem Parlament nicht alles angekündigt! Am Anfang der Debatte hieß es: Kein Cent für Griechenland. Das war falsch und natürlich nicht aufrechtzuerhalten. Die nächste Position war: Griechenland ist ein Einzelfall. Auch das war nie aufrechtzuerhalten. Als der Rettungsschirm da war, haben Sie gesagt: Er wird garantiert nicht in Anspruch genommen. Was war das Ergebnis? – Später hieß es: Der Schirm wird genutzt, aber nur temporär. Aber es kommt, wie es kommen musste: Natürlich werden wir ihn für eine dauerhafte Nutzung ausgestalten.

Diese Art und Weise, von der Hand in den Mund, nützt weder Ihnen noch Europa; aber vor allen Dingen überzeugen wir dadurch nicht unsere Bürgerinnen und Bürger von dem, was notwendig ist.

In den folgenden Reden werden wir wieder hören, dass das kein Unfall war, sondern eine kluge Strategie.

Ich sage Ihnen nur: Mit jedem dieser kleinen Schritte, bei denen uns nach drei Monaten die Realität eingeholt hat, sind wir den Finanzmärkten nachgelaufen. Wir haben nach meiner Überzeugung nicht Geld gespart, wie Sie gleich sagen werden, sondern wir haben die teureren Lösungen mit organisiert; denn die Erfahrung zeigt: Auch Lösungen auf der europäischen Ebene, die wir zunächst drei Monate lang verhindert haben, haben wir später mitgetragen. Das wird auch nicht durch wohlklingende Titel verdeckt, die wir uns für deutsche Papiere einfallen lassen: Pakt für dieses und jenes.

Nein, es ist eindeutig: Wir sind nach knapp zwei Jahren aus der Rolle der Führung in der europäischen Willensbildung an den Rand geraten. Die Kleinen sind irritiert über unser Land; glauben Sie es mir.

Die Großen treffen Vereinbarungen an uns vorbei, und wir sind vom Gestalter zum Nörgler geworden. Das ist nicht unsere Rolle, und das will ich auch nicht.

Wer das alles immer noch nicht glaubt, der werfe einmal einen Blick auf das europäische Personaltableau. Ich finde, das wirft ein Schlaglicht auf unsere Lage. Deutschland ist der bevölkerungsreichste Mitgliedstaat mit der stärksten Volkswirtschaft in Europa. Aber in den Spitzenpositionen sind wir kaum noch präsent.

Den sicher geglaubten Posten des EZB-Präsidenten haben Sie aus der Hand gegeben. Das ist nicht die Schuld Griechenlands, der Kommission oder irgendwelcher bösen Mächte, sondern liegt in der Verantwortung dieser Regierung.

Wahr ist, Herr Schäuble: Nichts ist einfach in Europa, erst recht nicht Lösungen für Griechenland. Wir stehen in europäischer Verantwortung; das haben Sie betont. Die heutigen Generationen in Griechenland, vermute ich, ahnen sehr genau, dass sie die Fehler der Vergangenheit nicht innerhalb von Monaten korrigieren können, und setzen auch deshalb Hoffnung auf Europa. Ich glaube, sie ahnen auch, dass die Hauptverantwortung für diese Fehler in Griechenland selbst liegt.

Aber wir sollten auch wissen: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben wir in Griechenland eine Regierung, die mit Vernunft und mit dem Mut der Verzweiflung nicht allein um Ministersessel kämpft, sondern um die Zukunft ihres Landes und dessen Überleben. Das ist die Chance, die dieses Land hat.

Herr Schäuble, es gibt keine Garantie, dass das gelingt. Aber Vernunft und Mut werden auch von uns verlangt, von dieser Regierung, von Europa insgesamt. Da kommt man nicht mit einem ängstlichen Blick auf die Vertreter der schlichten Lösungen durch. Da nimmt das Drama seinen Lauf. Das ist jetzt vorauszusehen. Ich sage noch einmal: Nichts ist einfach. Aber, Herr Schäuble, setzen Sie bitte – das ist auch meine Bitte an die gesamte Regierung – nicht auf diejenigen, die sich in ihrem Wahlkreis einen weißen Fuß machen. Setzen Sie auf diejenigen, die in der Lage sind, europäische Verantwortung zu tragen. Darum geht es.

Auch das haben Sie angedeutet: Wir brauchen jetzt eine überzeugende europäische Gesamtlösung für die Staatsschuldenkrise. Ohne eine Gesamtlösung werden wir, werden Sie in den Folgejahren immer Rettungsschirm über Rettungsschirm spannen und das Misstrauen der Märkte gleichwohl nicht ausräumen. Peer Steinbrück und ich haben uns bemüht, in Reden hier vor dem Deutschen Bundestag Elemente einer solchen Gesamtlösung vorzustellen.

Umschuldung, Schuldenschnitt, europäische Anleihen, limitierte Euro-Bonds haben wir hier genannt – auch von diesem Pult aus.Sie haben das verlacht, Sie haben das verspottet. Ich prophezeie Ihnen: Am Ende werden Sie genau da ankommen.

Die ganze Wahrheit ist ja: Das, was wir gegenwärtig erleben, ist auch eine Staatsschuldenkrise. Es ist keine Krise des Euro, aber es ist vor allen Dingen nicht eine Krise allein der Schuldnerstaaten. Es gibt ganz unterschiedliche Gründe dafür, warum die in die Krise geraten sind. Deshalb geht die Krise eigentlich weiter, während wir das miteinander diskutieren. Es ist eben auch eine Krise der europäischen Institutionen, die von der Struktur her nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind. Mit anderen Worten: Wir haben eine gemeinsame Währung geschaffen. Das war ein wichtiger Schritt, ein großer Schritt, ein richtiger Schritt. Aber wir sehen doch gerade in diesen Tagen, dass eine europäische Währung mehr braucht, damit sie funktionieren kann. Wir brauchen eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa. Wir brauchen eine strengere Aufsicht für die Banken und Finanzmärkte. Wir brauchen eine Harmonisierung der Steuern. Wir brauchen eine Mindestbesteuerung bei Körperschaft und Unternehmen. Nach meiner Überzeugung brauchen wir auch differenzierte Mindestlöhne in Europa. Das muss zusammenwachsen.

Wir müssen in all diesen Fragen Neuland beschreiten. Jawohl, Herr Schäuble, es gibt keine Blaupause, auf die wir in diesen Zeiten zurückgreifen können. Argentinische Lösungen, wie sie von manchen auf klugen Seiten der Wirtschaftszeitungen vorgeschlagen werden, stehen nicht zur Verfügung.

Herr Schäuble, ich will ausdrücklich anerkennen, dass Sie sich persönlich immer wieder bemüht haben, solche Lösungen zu finden. Deshalb sage ich Ihnen auch zu, dass wir, die Sozialdemokraten, uns bei sinnvollen und erfolgversprechenden Entscheidungen nicht der Verantwortung entziehen werden. – Ich glaube, Sie werden das brauchen. Seien Sie nicht ganz so hochnäsig.

Das setzt auch einen etwas anderen Umgang zwischen Regierung und Opposition voraus.

Das verlangt, dass wir wirklich mit Offenheit über die Dinge sprechen, dass Handlungsoptionen, die Sie erwägen, nicht versteckt werden. Ich sage Ihnen – es ist schlicht und einfach, Herr Schäuble, Sie wissen das –: Verantwortung geht nur mit Transparenz. Wir entziehen uns dieser Verantwortung nicht, aber wir wollen wissen, was an europäischen Lösungen ansteht.

Und ein Letztes: Wir werden das nur gewinnen, wenn wir auf diesem Weg die Bürgerinnen und Bürger in unserem eigenen Land mitnehmen.

– Herr Kauder, ganz ernsthaft, Sie machen sich die Dinge zu einfach!

Ich stehe jetzt zum dritten Mal hier in der europäischen Debatte. Immer sagen Sie: „Diese Instrumente wollen wir nicht.“ Drei Monate später erfährt man, dass Sie sie doch wieder übernehmen.

Ich komme deshalb gerne zu einem letzten Element. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger auf diesem schwierigen europäischen Weg mitnehmen wollen, dann müssen wir in der Politik – nicht nur die Regierung – gewährleisten, dass nicht der falsche Eindruck entsteht, dass nur einer die Last der ganzen Krise trägt. Im Augenblick macht sich doch der Eindruck breit, dass ganz viele an den unterschiedlichen Krisen verdienen, aber dafür nur ganz wenige die Kosten tragen. Deshalb meine herzliche Bitte – auch wenn Sie das in der Vergangenheit immer als überflüssig betrachtet haben –: Wenn nicht der falsche Eindruck entstehen soll, dass die Übernahme der Kosten der Krise nicht ausbalanciert wird und diejenigen, die an ihr verdienen, nicht beteiligt werden, dann geben Sie endlich den Weg frei und setzen Sie sich mit aller Kraft dafür ein, dass die Finanzmarkttransaktionsteuer in Europa kommt.

Sie werden diese Ressource brauchen, wenn wir notleidenden Ländern wieder auf die Beine helfen wollen. Allein mit Sparen funktioniert das nicht; das sehen wir gerade leider auch in Griechenland.

Herzlichen Dank.