Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Dietmar Bartsch aufmerksam zugehört. Nachdem schon Sahra Wagenknecht ihre Verehrung für Ludwig Erhard bekundet hat, entdeckt Dietmar Bartsch jetzt seine Vorliebe für Helmut Kohl. Ich stelle fest: Die Christdemokratisierung der Linken schreitet unaufhaltsam voran.

Aber wenn der erste Schritt für ein besseres Europa die von Sahra Wagenknecht gestern vorgeschlagene Volksabstimmung in Deutschland über europäische Verträge sein soll, dann bin ich nicht sicher, ob Sie auf dem richtigen Weg sind. Die europäischen Verträge sind teilweise sogar in unser Grundgesetz inkorporiert. 80 Prozent der Deutschen haben letzte Woche in einer Forsa-Umfrage bekundet, dass sie für einen Verbleib von Deutschland in der Europäischen Union sind. Deshalb werden Sie es nicht schaffen, uns jetzt nach dem Vorbild Großbritanniens auf einen Weg zu bringen, der dazu führt, unsere Gesellschaft zu spalten.

Meine Damen und Herren, mit Großbritannien verliert die Europäische Union ihre zweitstärkste Volkswirtschaft, die 17 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung erbringt. Aber insbesondere verliert sie einen gut vernetzten weltpolitischen Akteur und damit ein gutes Stück ihrer globalen Wirkungsmöglichkeiten. Wenn Großbritannien jetzt auch noch aus dem Binnenmarkt ausscheiden sollte, dann wäre das für Deutschland, dann wäre das für die deutsche Wirtschaft keine gute Nachricht.

Aber vor allem Großbritannien stehen nun schwierige Zeiten bevor. David Cameron, der Initiator dieser Volksabstimmung, hat einen riesigen politischen Scherbenhaufen hinterlassen. Um einen innerparteilichen Dauerkonflikt zu befrieden, hat er den Konflikt in die ganze Gesellschaft getragen. Am Ende hat David Cameron aus einer gespaltenen Partei ein gespaltenes Land gemacht.

Gespalten ist es zwischen Schottland und Nordirland auf der einen Seite sowie England und Wales auf der anderen Seite. Diese Spaltung wird das Vereinigte Königreich vor eine zusätzliche Belastungsprobe stellen. Schottland hat bereits erklärt, dass es seinen Platz in der Europäischen Union sieht, und ein erneutes Referendum angekündigt. In Nordirland gibt es Forderungen nach einer Wiedervereinigung Irlands. Die aktuelle Entwicklung Großbritanniens zeigt: Nationalismus stärkt nicht die Nation. Nationalismus spaltet und gefährdet die Einheit unserer Nationen.

Aber gespalten ist das Land vor allen Dingen zwischen Jung und Alt. Die unter 50-Jährigen haben mit großer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt, die unter 25-Jährigen sogar mit einer Dreiviertelmehrheit. Die jungen Menschen in Großbritannien favorisieren ganz offenkundig nicht die nationalstaatliche Einigelung und Abkapselung. Sie sehen ganz klar ihre Zukunft in einem vereinten, weltoffenen, modernen Europa. Ich finde, das ist ein Zeichen der Hoffnung für Großbritannien und für Europa.

Das Votum der jungen Briten sollte uns eine Verpflichtung sein. Wir dürfen diesen jungen Leuten nicht die Hoffnung nehmen, dass eines Tages nach diesem Austritt Großbritannien wieder in die EU zurückkehren kann. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass die EU-27 nicht auseinanderfällt, sondern zusammenbleibt.

Noch etwas anderes schulden wir diesen jungen Leuten und allen, die für ein vereintes Europa kämpfen: dass wir ein klares Zeichen gegen Antieuropäer und Nationalisten setzen. Wer sich gegen Europa entscheidet, der muss auch für die Konsequenzen geradestehen. Ich sage das mit Blick auf die neue Diskussion in England. Ich bin erstaunt, dass die Propagandisten des Brexits jetzt plötzlich, angesichts der Trümmer ihrer politischen Initiative, sich erschrecken. Erst hieß es: Es kann mit dem Brexit gar nicht schnell genug gehen. - Plötzlich heißt es: Es ist überhaupt keine Eile geboten.

Ich stelle fest: Diejenigen, die unhaltbare Versprechungen gemacht haben, kriegen jetzt kalte Füße. Diejenigen, die vollmundige Ankündigungen gemacht haben, werden plötzlich kleinlaut. Einigen dämmert offenbar erst jetzt, was sie angerichtet haben. Ich finde, die Verantwortung dafür müssen sie ganz alleine tragen.

David Cameron will die Sache jetzt bis zur Wahl seines Nachfolgers liegen lassen. Ich finde, das ist eine Zumutung für alle, denen Europa am Herzen liegt.

Die Probleme dieser Partei scheinen immer noch wichtiger zu sein als die Probleme des Landes und die Probleme Europas. Eine monatelange Unsicherheit über die Frage, wie es weitergeht, schadet der britischen, schadet der deutschen und schadet der europäischen Wirtschaft.

Natürlich ist es ganz allein die Entscheidung der britischen Regierung, wann sie den Austritt nach Artikel 50 EU-Vertrag erklärt. Aber es ist die Pflicht der deutschen Bundesregierung und aller anderen Mitglieder im Europäischen Rat, klarzumachen, was unsere Erwartung ist. Deshalb bitte ich Sie, Frau Bundeskanzlerin: Drängen Sie im Europäischen Rat darauf, dass möglichst schnell Klarheit geschaffen wird!  Europa braucht Klarheit. Wir können eine jahrelange Hängepartie nicht gebrauchen.

Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte von Ihnen - und das haben Sie ja auch schon angedeutet -, dass Sie für unsere gemeinsame Regierung auf dem Gipfel ein zweites Zeichen setzen: die klare Ansage, dass es für Großbritannien keine Sonderbehandlung geben kann. Wir wollen faire Verhandlungen. Wir wollen weiterhin tiefe und freundschaftliche Beziehungen zum Vereinigten Königreich. Aber es darf keine Belohnung für den Austritt, es darf keine Prämie für Nationalismus und Europafeindlichkeit geben.

Ein Gemeinwesen kann - überall auf der Welt - nur funktionieren, wenn Rechte und Pflichten zusammengehören. Wenn man es zulassen würde, dass man die Vorteile behalten und gleichzeitig die Verpflichtungen loswerden könnte, dann allerdings, würde ich prognostizieren, gäbe es bald überall in Europa Volksabstimmungen nach diesem Muster. Ich sage ganz klar: Mit solchen Dingen dürfen wir die Europäische Union nicht zum Abschuss freigeben durch Nationalisten und Populisten.

Wenn die Feinde Europas über den Brexit jubeln, dann kann die richtige Antwort darauf weder in einem einfachen Ruf nach mehr Europa noch in einer als Denkpause getarnten Schockstarre bestehen.

Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. Das Referendum zeigt, dass es ein breites Unbehagen gegenüber der Europäischen Union gibt. Viele Menschen haben das Gefühl, dass Europa unablässig dabei ist, ihnen durch kleinteilige Regulierungen das Leben im Alltag schwer zu machen. In den vergangenen 70 Jahren waren es gerade die großen Fragen, die Europa vorangetrieben und die Menschen mitgenommen haben: Frieden und Wohlstand, Freiheit und Demokratie, die Überwindung von Nationalismus und die Überwindung jahrhundertealter Feindschaften. An diesen historischen Leistungen muss die Europäische Union jetzt anknüpfen. Das geht nur, wenn wir uns wieder auf das Wichtige konzentrieren und das weniger Wichtige im Sinne einer wohlverstandenen Subsidiarität der politischen Gestaltung in den Mitgliedsländern überlassen. Dazu haben Frank-Walter Steinmeier und Jean‑Marc Ayrault in ihrem gemeinsamen Papier den entscheidenden Punkt benannt: „Wir müssen unsere gemeinsame Politik strikt auf jene Herausforderungen konzentrieren, die nur durch gemeinsame europäische Antworten bewältigt werden können.“ Genau das ist es: Wir brauchen ein besseres Europa, ein Europa, das sich auf das Wesentliche konzentriert und das sich wieder den Menschen zuwendet.

Dazu gehört ganz sicher die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Um den Menschen das Vertrauen in die EU zurückzugeben, müssen wir beides schaffen: unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen, aber auch die Kontrolle über die Situation behalten. Wir alle haben erfahren, dass die europäischen Binnengrenzen nur offengehalten werden können, wenn wir die Außengrenzen sichern. Das ist zweifellos eine Aufgabe, die die EU nur als Ganzes lösen kann. Wir wollen keine Abschottung. Wir brauchen eine neue europäische Flüchtlingsordnung, die Grenzländer entlastet und Flüchtlinge besser und fairer verteilt. Wir alle wissen, dass die Positionen der Mitgliedstaaten in dieser Frage meilenweit auseinanderliegen. Trotzdem bleibt nichts anderes übrig, als beharrlich weiter an einer Annäherung der Positionen zu arbeiten und eine pragmatische Lösung zu erreichen. Die Menschen erwarten dies, und diese Erwartung müssen wir auch erfüllen.

Die zweite große Aufgabe Europas besteht in der Schaffung wirtschaftlichen Wachstums und der Überwindung der Finanzkrise. Das muss geleistet werden, um das von der Bundeskanzlerin aus den Lissaboner Verträgen zitierte Wohlstandsversprechen einzulösen. Vor sieben Jahren haben Millionen Menschen in der Wirtschaftskrise ihre Arbeit verloren. Viele von ihnen haben übrigens bis heute keinen neuen Arbeitsplatz gefunden. Die Finanzkrise hat das Vertrauen von Millionen Menschen, von Millionen Bürgerinnen und Bürgern erschüttert. Der Staat bzw. die Staatengemeinschaft war nicht in der Lage, den bescheidenen Wohlstand der Menschen vor dem gierigen Zugriff spekulierender Finanzmärkte zu schützen.

Trotz Bankenunion haben wir immer noch keine wirkungsvolle Regulierung der Finanzmärkte und keine Schließung der Steuerschlupflöcher in Europa. Ich frage: Wann kommt endlich die Finanztransaktionsteuer?  Die EU wird sofort vertrauenswürdiger, wenn klar ist, dass auch Finanzmärkte und Spekulanten an ihrer Finanzierung beteiligt werden.

Nach sieben Jahren Krise brauchen wir wieder eine wirtschaftliche Dynamik in der Euro-Zone. Genau das ist der Kern von Sigmar Gabriels und Martin Schulz‘ Vorschlag einer europäischen Wachstumsregion. Wir brauchen mehr Investition und Innovation, um die Arbeitslosigkeit in der EU zu bekämpfen. Wir müssen die Währungsunion endlich zu einer Wirtschaftsunion machen. In einer wirtschaftlich intakten Euro-Zone können wir wieder Vertrauen zurückgewinnen. Vor allen Dingen ist das ein Weg, der 22 Millionen Arbeitslosen in der EU wieder Mut und Hoffnung geben könnte. Die Jugendlichen waren die Ersten - darauf wurde bereits hingewiesen -, die in der Krise ihre Arbeit verloren haben, vielleicht nicht in Deutschland und in Großbritannien, wohl aber in vielen anderen Ländern der EU. Die jungen Menschen waren die großen Verlierer des letzten Jahrzehnts. Das darf nicht so bleiben. Nur wenn Europa der Jugend wieder eine Perspektive gibt, dann hat auch Europa eine Zukunft.

Frau Bundeskanzlerin, da müssen wir mehr machen. Das Wohlstandsversprechen zu erneuern, wird nicht allein über den Juncker-Plan funktionieren. Wir brauchen eine andere Dimension von Investitionsprogrammen. Wir brauchen ein Investitionsprogramm in Europa, das die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stärkt und auch die Infrastruktur so modernisiert, dass die jungen Menschen das Gefühl haben, dass sie auch noch in zehn Jahren hier eine wirtschaftliche Perspektive haben. Deshalb brauchten wir innerhalb von zehn Jahren eigentlich die modernste digitale Infrastruktur auf der ganzen Welt. Das wäre eine Dimension, an die man sich jetzt ranmachen müsste.

Meine Damen und Herren - ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident -, die Probleme, die wir heute haben, egal ob Flüchtlinge, Sicherheit, Finanzmärkte oder Klimawandel, sind alle transnational. Sie machen weder an nationalen Grenzen halt, noch können sie innerhalb nationaler Grenzen und in nationaler Souveränität gelöst werden. Das geht nur mit europäischen Antworten.

Wenn sich jetzt wieder Nationalismus und nationalstaatliches Denken in Europa durchsetzen, dann wird es jedem einzelnen Land schlechter gehen als vorher. Es wäre das Ende von Europa als Friedensmacht und das Ende einer offenen europäischen Gesellschaft. Das dürfen wir nicht zulassen. Aber wenn nur diejenigen kämpfen, die Europa nicht wollen, dann wird es Europa bald nicht mehr geben.

Uns Deutschen wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn es allen in Europa gut geht. Deshalb: Lassen Sie uns für ein besseres, stärkeres Europa kämpfen, und lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten.