Niemand war länger Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Insgesamt 14 Jahre lang stand er an der Spitze der Fraktion und prägte diese maßgeblich – politisch wie menschlich. Vor genau 45 Jahren, am 22. Oktober 1969, wurde Herbert Wehner das erste Mal zum SPD-Fraktionsvorsitzenden gewählt und hatte dieses Amt bis zu seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik 1983 inne.

Bewegte Vergangenheit

Herbert Wehner, 1906 als Sohn eines Schuhmachers in Dresden geboren, war Zeit seines Lebens – und sogar darüber hinaus – eine Persönlichkeit, die polarisierte. Vor allem seine politischen Gegner arbeiteten sich immer wieder an Wehners Vergangenheit vor seiner Zeit in der SPD ab. Als Jugendlicher begann er sich zu radikalisieren und trat nach einer Station in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) 1927 in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ein, wo er schnell unterschiedliche Funktionen übernahm. Als die KPD 1933 verboten wurde, ging Wehner in den illegalen Widerstand der Partei gegen die Nationalsozialisten, bevor ihn schließlich als Mitglied des Zentralkomitees der Exil-KPD sein Weg nach Moskau führte. Hier wurde er auch in die so genannte “stalinistische Säuberung“ verstrickt. Der Historiker Christoph Meyer, Biograph Wehners und Geschäftsführer des Herbert Wehner Bildungswerkes, bestätigt, dass Wehner hier auch „schuldhaft“ gehandelt habe. Schließlich kommt es aber zum Bruch Wehners mit dem Kommunismus, und als er 1946 aus Schweden nach Deutschland zurückkehrte, trat er der SPD bei und engagierte sich zunächst in Hamburg. Insgesamt 40 Jahre war Wehner als Sozialdemokrat aktiv. Seine politische Vorgeschichte blieb jedoch immer Gegenstand für viele Spekulationen und Angriffe gegen ihn. Dabei bemühte sich der Dresdener zeitlebens um Wiedergutmachungen für sein Handeln in den Moskauer Jahren durch humanitäres und demokratisches Engagement. Außerdem bekannte er sich klar zum Godesberger Programm der SPD.

Deutliche Worte im Parlament

Polarisiert hat Wehner auch durch seine für Außenstehende schroff wirkende Art und durch teils sprachlich heftige Bemerkungen im Deutschen Bundestag. Diesem gehörte er von Beginn an an und übernahm hier bis 1966 zunächst den Vorsitz des Gesamtdeutschen Ausschusses. Über seine gesamte Zeit als Parlamentarier hinweg fiel der Sozialdemokrat immer wieder durch teils derbe Zwischenrufe im Plenum auf. 77 Ordnungsrufe brachte ihm das in seiner Karriere ein – einsamer Rekord. So bezeichnete er den CDU-Abgeordneten Jürgen Wohlrabe einst als „Übelkrähe“ oder er warf einem anderen CDU-Abgeordneten an den Kopf „Waschen Sie sich erst einmal! Sie sehen ungewaschen aus.“ Weggefährten Wehners betonen jedoch auch seine sehr soziale und teils fürsorgliche Ader. In der Fraktion wurde er liebevoll „Onkel Herbert“ genannt. Das „Soziale“ war für Wehner stets von besonderer Bedeutung. Der Zusammenhang von Sozialstaat und Demokratie war ihm immer ein grundlegendes und grundsätzliches Anliegen.

Regierungsfähigkeit als oberstes Gebot

Wehners Zeit im Deutschen Bundestag war natürlich vor allem durch seine Zeit als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion geprägt. Am 21. Oktober 1969 wurde Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Einen Tag später wählte die Fraktion Wehner zu ihrem Vorsitzenden. Kern seiner politischen Arbeit in der Fraktion sah Wehner, der 1966 zu einem der entscheidenden Wegbereiter der Großen Koalition gehörte, darin, die Regierungsfähigkeit der SPD zu garantieren. So sorgte Wehner dafür, dass die Entspannungspolitik von Willy Brandt fraktionsintern und innenpolitisch abgesichert wurde. Auch der Grundlagenvertrag mit der DDR von 1972 wurde unter anderem vom damaligen Fraktionsvorsitzenden gemeinsam mit dem Kanzler Brandt geprägt und auf den Weg gebracht. Der Einsatz für eine Entspannung zwischen Ost und West war immer wichtiger Teil seiner Arbeit. Wie Brandt war auch er deshalb immer wieder Anfeindungen von Gegnern ausgesetzt. Die politischen Wege der beiden Sozialdemokraten waren stets eng miteinander verbunden. Bis heute wird jedoch auch viel über das Verhalten Wehners beim Rücktritt von Willy Brandt im Zuge der Guillaume-Affäre diskutiert.

Das Ziel Herbert Wehners, die Regierungsfähigkeit der SPD sicherzustellen, konnte er mit dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 nicht mehr aufrechterhalten. 1983 schließlich gab er sein Amt als Fraktionsvorsitzender auf und verabschiedete sich aus dem Deutschen Bundestag – nach insgesamt 34 Jahren als Abgeordneter. Herbert Wehner verstarb im Januar 1990 in Bonn.

 

Johanna Agci