Frau Nahles, man hat den Eindruck, dass sich durch die SPD gerade tiefe Gräben ziehen. Steht die Partei nach den schlechten Ergebnissen bei der Bundestagswahl vor einer Zerreißprobe?
Ganz klar: Nein. Wir brauchen jetzt die Debatte. Wir brauchen sogar Grundsatzdebatten und müssen große Frage stellen. Wir können doch nach einem solch bitteren Wahlergebnis nicht einfach Parolen wie „Geschlossenheit“ und „Weiter so“ ausgeben. Wenn wir jetzt nach dieser Wahl nicht über Inhalte diskutieren, wann dann? Also diskutieren wir – offen und transparent über Inhalte, nicht über Personen. Martin Schulz hat volle Rückendeckung.
Volle Rückendeckung heißt: eine Kampfabstimmung um den Vorsitz der SPD wird es beim Bundesparteitag im Dezember nicht geben?
Ich rechne nicht mit einer Kampfabstimmung.
Wie war denn die Stimmung unter den Genossen aus Wolfsburg und der Region?
Konstruktiv-kritisch. Konstruktiv, weil sie nach vorne geschaut haben, Vorschläge eingebracht haben, teils sehr konkrete Dinge. Die werden wir mitnehmen, die verschwinden nicht in irgendeiner Schublade. Einige Punkte haben wir schon bei den anderen Regionalkonferenzen gehört. Dass die SPD ein klares Profil braucht, mehr Beteiligung der Basis. Und auch in Wolfsburg war die Unsicherheit zu spüren, die noch immer durch die Agenda 2010 vorhanden ist. Und die Frage: Wie gehen wir damit um?
Sicherlich dürfte in Wolfsburg auch die Frage eine Rolle gespielt haben, wie es für die deutschen Autobauer weitergeht.
Diese Diskussion führen wir am offenen Herzen der deutschen Industrie, deshalb ist große Umsicht geboten. Natürlich haben die Menschen das Recht auf saubere Luft, daher machen mich Tricksereien ernsthaft wütend. Lug und Trug muss hart bestraft werden – da passiert aus meiner Sicht viel zu wenig. Wir müssen dennoch auch die industriepolitischen Interessen im Auge behalten, denn daran hängen Arbeitsplätze. Ich halten den Vorschlag der EU-Kommission (bis 2025 soll der Anteil von Modellen mit alternativen Antrieben bei den Autobauern bei 15 Prozent liegen, bis 2030 bei 30 Prozent, Anm. d. Red.) grundsätzlich für einen vernünftigen Mittelweg. Das wird noch schwer genug. Und für solche Innovationen benötigt man viel Geld. Geld, das gerade an andere Stelle ausgegeben werden muss, weil einige Verantwortliche betrogen haben.
Nach dem schlechtesten SPD-Wahlergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik muss sich die Partei neu sortieren. Wen sehen sie denn eigentlich 2021 als SPD-Wähler? Der normale Facharbeiter mit einem guten Lohn scheint nicht mehr auf die Sozialdemokratie angewiesen zu sein?
Das sehe ich anders: auch der normale Facharbeiter muss heute beispielsweise einen großen Teil seines Lohns für die Miete ausgeben. Wie ich gehört habe, ist das auch in Braunschweig und Wolfsburg ein Problem. Und wir müssen Antworten auf den Druck durch die Globalisierung finden. Da geht es um die Frage: Wollen wir Industrie in Deutschland oder nicht? In den neoliberalen Zeiten der Nuller-Jahren sind wir ausgelacht worden, weil bei uns noch die Schornsteine rauchten. Stattdessen haben viele auf die City of London mit ihren Banken gezeigt. Der Erfolg hat uns Recht gegeben, unser Land steht heute sehr gut da. Doch nun steht die nächste Transformation an durch die Digitalisierung. Und auch hier sage ich: Wir brauchen beides, wir müssen eine vernünftige Verbindung von Sicherheit und Wandel hinbekommen.
Trotzdem: Sie reden da von sozialversicherungspflichtigen Jobs, am besten tarifgebunden. Gleichzeitig entstehen völlig neue Arbeitsmodelle. Freiberufler, die digitale oder andere Dienstleistungen anbieten und dabei wenig Geld verdienen. Sich in der gesetzlichen Krankenversicherung anzumelden, ist für diese Menschen beispielsweise kaum bezahlbar.
Eine der großen Fragen, denen wir uns stellen müssen lautet: Wie entwickeln wir den Sozialstaat weiter, dass die Menschen sich auch in Zukunft darauf verlassen können? Und ja, es gibt inzwischen rund drei Millionen Menschen, die selbstständig arbeiten, aber zum Teil so wenig verdienen, dass sie nicht vorsorgen und im Alter nur die Perspektive Grundsicherung haben. Was im Übrigen doppelt unfair ist, da die Grundsicherung durch Steuern finanziert wird, die auch von der Einzelhandelsverkäuferin gezahlt werden, die auf ihr schmales Gehalt immer Sozialversicherungsbeiträge abgeführt hat. Wir wollen daher, dass diese Berufstätigen in die Kranken- und Rentenversicherung einbezogen werden. Wir brauchen dafür einen Sondertarif, in dem Kranken- und Rentenversicherung zusammengefasst werden.
Ein erster Schritt. Aber die Arbeitswelt ändert sich rapide. Wie reagiert die Arbeiter-Partei SPD?
Zum Beispiel mit der Idee des Chancenkontos. Wir möchten ein solches Konto im Wert von 20 000 Euro jeder Bürgerin und jedem Bürger beim Start ins Berufsleben mit auf den Weg geben. Dieses Geld ist zweckgebunden, für genau zwei Ziele: die Weiterbildung und die Selbstständigkeit. Weiterbildung und Veränderung wird in der digitalen Welt einfach dazugehören. Und wer den Schritt in die Selbstständigkeit wagt, erhält durch das Konto ein Stück Sicherheit: Ja, ich kann scheitern. Aber ich habe durch das Chancenkonto ein Starguthaben, ich kann es also riskieren und etwas auf die Beine stellen - unabhängig von Geldbeutel und Elternhaus.
Wir haben mehr als 42 Millionen Erwerbstätige. Ist das nicht unbezahlbar?
Es ist ein beliebtes Spiel, eine gute Idee mit Horrorzahlen über die Kosten bereits im Keim zu ersticken - das hat auch die Bild-Zeitung im Wahlkampf versucht. Aber die Unterstellung, alle 42 Millionen würden diese Konto zeitgleich in Anspruch nehmen, ist natürlich Quatsch. Uns geht es vielmehr darum, einen Anreiz zu Weiterbildung und Qualifizierung zu setzen, der auch echte Wirkung entfaltet. Nur so erhalten wir die Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes in Zeiten des digitalen Wandels. Wir rechnen derzeit mit den Zahlen der Arbeitsagentur. Demnach nehmen etwa 100 000 Menschen pro Jahr eine Fortbildung in Anspruch. Klar, das dürften mehr werden. Aber am Ende würden sich die Kosten für das Konto in einem einstelligen Milliardenbereich bewegen. Die Investition in die Qualifizierung und guten Ideen der Menschen ist in jedem Fall günstiger und nachhaltiger, als die eines missglückten Strukturwandels.
Einige unserer Leser haben Fragen zu ihrer Zeit als Arbeits- und Sozialministerin. Warum beispielsweise war es in Ihrer Amtszeit nicht möglich, das Opferentschädigungsgesetz zu reformieren?
Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes war sehr intensiv und langwierig. Am Ende blieb uns daher schlicht nicht mehr genug Zeit, dieses weitere umfangreiche Gesetz einzubringen. Das Gesetz liegt fast fertig in der Schublade. Ich hoffe, dass meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger es hervorholen, denn wir müssen das dringend anpacken. Vielleicht liest hier ja einer der Jamaikar-Koalitionäre mit: Sie finden das Gesetz im Sozialministerium in der Abteilung 5.
Ein anderer Leser wundert sich, dass der Erste Bürgermeister von Hamburg, Olaf Scholz, plötzlich einen Mindestlohn von 12 Euro ins Spiel bring. Das sei doch eine Forderung der Linken.
Wir lassen sicher keine Vorschläge fallen, nur weil die Linkspartei sie auch macht. Und wir wissen alle: Der Mindestlohn ist eine wichtige unterste gesetzliche Haltegrenze, aber er ist noch kein guter Lohn. Wir brauchen anständige Löhne! Wer sich anstrengt, muss mit seiner Arbeit auch eine auskömmliche Rente erwirtschaften können. Ich würde das gern über Tarifbindung und Tariflöhne lösen.
Drücken Sie eigentlich heimlich die Daumen, dass die Jamaika-Verhandlungen erfolgreich sind? Ansonsten könnte die CDU ja doch noch bei der SPD anklopfen und zur ungeliebten GroKo bitten.
Nein – wir haben da eine klare Haltung. Die SPD hat keinen Regierungsauftrag erhalten und wir sind nicht die Mehrheitsreserve der Union.
Also eher Neuwahlen als die Große Koalition Teil 2?
Genau das hieße das. Aber dazu wird es nicht kommen, die Jamaikaner werden sich sicher einigen.