Die Briten haben für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt, für den Brexit. Droht Europa jetzt auseinander zu brechen?

Oppermann: Nein. Die Entscheidung des britischen Volkes ist deutlich. Wir werden sie ohne Wenn und Aber respektieren. Der Brexit ist eine Ernüchterung für Europa, aber nicht das Ende der Europäischen Union. Dennoch: Wir werden nach vorne schauen und wollen Europa besser machen.

Sollte für Nachverhandlungen noch eine Tür offen gehalten werden?

Oppermann: Nein. Ich bin gegen Nachverhandlungen. David Cameron hat angekündigt, dass er den Austrittswunsch der Briten unverzüglich dem EU-Rat übermitteln wird. Nach diesem Votum bleibt ihm nichts anderes übrig. Damit wird der Prozess der Trennung und der Entflechtung in Gang gesetzt. Die EU hat zwei Jahre Zeit, sich mit den Briten im Einzelnen über die Modalitäten zu verständigen. Es kann keine weiteren Bleibeverhandlungen mehr geben. So leid es mir tut: Diese Entscheidung muss jetzt umgesetzt werden. Ich bin für eine saubere Trennung.

Für wen ist der Schaden größer – für die Briten selbst oder für den Rest der Europäer?

Oppermann: Das kann man schlecht quantifizieren. Der Schaden ist auf beiden Seiten groß. Vermutlich werden die wirtschaftlichen Auswirkungen für Großbritannien gravierender sein als für den Rest der Europäer. Die Briten müssen jetzt den Binnenmarkt verlassen.

War Camerons Weg, über die EU-Mitgliedschaft seines Landes abstimmen zu lassen, nicht von vorne herein ein Fehler?

Oppermann: Er wollte einen innerparteilichen Dauerkonflikt beilegen. Dazu hat er sich in dieses Referendum geflüchtet und damit die Situation unnötig eskaliert. Das war aus heutiger Sicht ein schwerer Fehler. Es wäre besser gewesen, wenn er von Anfang an innerhalb seiner Partei für den Verbleib in der Europäischen Union gekämpft hätte. Stattdessen hat er diesen Konflikt in die Gesellschaft getragen. Die Briten sind jetzt mit Blick auf Europa tiefer gespalten denn je.

Wird der Brexit jetzt zu Abspaltungsbewegungen auch in anderen Ländern Europas führen?

Oppermann: Wir müssen schnell Klarheit schaffen, in welche Richtung die Europäische Union steuern will. Es ist höchste Zeit, die Eurozone zu stabilisieren. Deutschland geht es wirtschaftlich gut. Wir haben Wachstum, Haushaltsüberschüsse und gute Zahlen auf dem Arbeitsmarkt. Man darf nicht vergessen: In vielen Ländern Europas ist die Jugendarbeitslosigkeit größer als 25 Prozent. Für Millionen Menschen in Europa sieht es so aus, als biete die Eurozone keine gute Perspektive. 

Was tun?

Oppermann: Wir brauchen ein besseres Europa, das sich den Menschen zuwendet. Das Ergebnis des Referendums ist ein Weckruf. Wir müssen das Misstrauen gegenüber Europa, den wachsenden Nationalismus und die große Distanz von den Institutionen der Europäischen Union endlich überwinden. Die EU sollte sich künftig aus allen kleinteiligen Fragen heraushalten. Brüssel sollte sich auf die große Herausforderungen konzentrieren - zum Beispiel auf die Bewältigung der Flüchtlingskrise, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und eine gemeinsame Sicherheitspolitik.

Muss Deutschland in dieser schweren Stunde für Europa eine Führungsrolle übernehmen? Was erwarten Sie von Angela Merkel?

Oppermann: Das zweitgrößte Land ist gerade aus Europa ausgetreten. Jetzt gilt es, mit allen EU-Nationen zusammenzustehen. Niemand sollte sich unnötig in den Vordergrund spielen. Aber natürlich haben Deutschland und Frankreich als große Länder und Gründungsmitglieder der Europäischen Union eine besondere Verantwortung. Das weiß auch Angela Merkel.

SPD-Chef Sigmar Gabriel setzt angesichts des Umfragetiefs auf einen Linkskurs. Er hat ein Bündnis der Mitte-Links-Parteien verlangt. Ist Rot-Rot-Grün eine wirkliche Option?

Oppermann: 15 Monate vor der Bundestagswahl führen wir keine Koalitionsdebatten. Diese Frage stellt sich erst, wenn die Wählerinnen und Wähler gesprochen haben. Wir sind offen für alle demokratischen Parteien. Mit den Grünen haben wir nach wie vor die größten Übereinstimmungen. Rot-Rot-Grün ist im Augenblick nicht realisierbar. Ob das nach der Bundestagswahl so bleibt, wird sich zeigen. Sigmar Gabriels Anliegen war, dass alle progressiven Kräfte zusammenarbeiten, um die Bedrohung unserer Demokratie durch Nationalisten und Rassisten abzuwehren. Man sollte dieses Anliegen nicht dadurch entwerten, dass man es auf koalitionspolitische Interpretationen reduziert.

Gibt es eine Basis für einen rot-rot-grünen Kandidaten für die Nachfolge von Bundespräsident Joachim Gauck?

Oppermann: Die SPD stellt rund 30 Prozent der Mitglieder in der Bundesversammlung und ist damit die zweitstärkste Kraft. Es ist schwer vorstellbar, dass sich ohne unsere Zustimmung ein Kandidat durchsetzen kann. Aber es geht nicht um Parteipolitik, sondern um eine geeignete Person. Wir reden mit allen Parteien, um die Möglichkeiten in der Bundesversammlung zu klären. Am Ende ist das aber nur an Hand konkreter Vorschläge möglich. Wir brauchen einen Kandidaten oder eine Kandidatin, der oder die in der Lage ist, das Land zusammenzuhalten und alle Gruppen in der Gesellschaft anzusprechen.

Sigmar Gabriel will Wladimir Putin in Moskau besuchen, Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnt die NATO vor Säbelrasseln und Kriegsgeheul. Was steckt hinter dieser neuen Strategie?

Oppermann: Wir müssen auf Gespräch und Dialog setzen. Wir haben die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und das russische Vorgehen in der Ostukraine scharf verurteilt. Mit dieser Politik hat Wladimir Putin die europäische Friedensordnung in Frage gestellt. Über russische Banken werden rechtsextreme Gruppen überall in Europa finanziert. Russland hat sich ins Abseits manövriert. Es ist in unserem Interesse, die Verhältnisse zu klären und wieder eine Partnerschaft zu entwickeln. Dafür brauchen wir nicht nur Sanktionen, sondern auch den Dialog. Jede Gelegenheit dazu muss genutzt werden.

SPD-Chef Sigmar Gabriel setzt auf eine immer schärfere Abgrenzung von der Union. Ist das nicht Opposition in der Regierung?

Oppermann: Die Koalition setzt im Bundestag gerade in diesen Wochen ein gutes Dutzend wichtiger Projekte um. Die Zusammenarbeit der Fraktionen läuft richtig gut. Aber klar ist auch: Union und SPD sind konkurrierende Parteien. Da muss es auch Eigenständigkeit geben. Uns gelingt beides. Wir bringen gemeinsam Gesetze auf den Weg, haben aber in anderen Fragen klare Auffassungsunterschiede.

Keiner stellt sie so in den Vordergrund wie Gabriel. Wie lange ist das noch mit seiner Position als Vizekanzler und Wirtschaftsminister vereinbar? Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass Gabriel diese Ämter aufgeben und an die Fraktionsspitze wechseln könnte....

Oppermann: Das ist Quatsch. Sigmar Gabriel ist ein hervorragender Vizekanzler und Wirtschaftsminister. Das wird er bis zur Bundestagswahl bleiben.

Haben Sie noch Zweifel daran, dass Gabriel Kanzlerkandidat der SPD wird?

Oppermann: Guter Versuch. Es bleibt dabei: die SPD stellt den Kanzlerkandidaten in 2017 auf. Jetzt ist noch 2016.

Vermögensteuer, neue Milliarden-Ausgaben und höhere Renten - von der Politik für die „arbeitende Mitte”, die Gabriel zuletzt versprochen hatte, ist nicht mehr viel übrig, oder?

Oppermann: Die SPD wird Belastungen und Entlastungen in ihren steuerpolitischen Vorstellungen neu justieren. Die arbeitende Mitte trägt die Hauptlast bei der Finanzierung unseres Gemeinwesens. Wir werden sie entlasten. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass unser Staat handlungsfähig bleibt.

Sind Sie ein Freund der Vermögensteuer?

Oppermann: Über die Vermögensteuer reden wir gerade. Wir haben noch nicht entschieden, ob sie Teil unseres Steuerkonzeptes wird.